Zeitbilder 6, Schulbuch

kohle in der zunehmenden Großin- dustrie verdrängte die von den Bau- ern oder Kleinhäuslern bisher er- zeugte Holzkohle. Damit wurden die kleinen Bauernstellen unrentabel. Mit der ab 1867 gegebenen Erlaub- nis, Bauernland zu verkaufen („Der Boden sollte beweglich werden“), verloren die Kleinhäusler und Klein- bauern ihre Existenzgrundlage. Aus ihren Reihen formierte sich in der Folge das ländliche und das städti- sche Proletariat. Am Ende stand oft genug das Verschwinden der Klein- bauern und die Einverleibung ihres Grundbesitzes in die neu entstehen- den großen Jagdherrschaften der Finanz- und Industriebarone. In eini- gen Gegenden des südlichen Nie- derösterreich gingen zwischen 1883 und 1905 bis zu 23% des bäuerli- chen Grundbesitzes verloren. Das Bürgertum gibt den Ton an Wer sind die Bürger? Im 18. Jh. kann man zunächst von „zwei Bürgertümern“ sprechen. Ei- nerseits gab es noch das „alte Stadt- bürgertum“ mit seinen speziellen Vorrechten: Die Bürger einer Stadt waren persönlich frei und konnten politisch mitbestimmen. Frauen hat- ten das Bürgerrecht ihrer Männer, besaßen aber keine politischen Rechte. Dieses „alte Bürgertum“ bestand bereits seit dem Mittelalter. Daneben wuchs im Laufe des 18. Jh. ein „neues Bürgertum“ heran. Dazu zählten mehrere Gruppen: Die Besitzbürger bzw. Großbürger: Das waren die Unternehmer. Dazu zählten Großhändler, Fabrikinhaber, Spediteure, Privatbankiers, Manu- fakturbetreiber u. a. Sie organisier- ten im Rahmen der beginnenden Industrialisierung die neue wirt- schaftliche Produktion. Ihre Zahl war gegen Ende des 18. Jh. noch nicht sehr groß, sie nahm aber besonders deutlich zu. Die Bildungsbürger: Dazu zählte man Beamte, Gelehrte, Offiziere und Angehörige der so genannten freien Berufe, wie z. B. die Ärzte, Advokaten, Notare, Journalisten. Für ihre Berufsausübung waren Bil- dung bzw. Ausbildung grundlegend. Die Kleinbürger gehörten schließ- lich auch noch zum „neuen Bürger- tum“. Das waren die „kleinen“ Kaufleute und Gewerbetreibenden. Zu dieser Gruppe zählten auch noch die niederen Beamten (z. B. Lehrer, Unteroffiziere). Das Bürgertum (ca. 10% der Gesamt- bevölkerung) war also zunächst noch kein in sich geschlossener Stand. Das, was wir heute als Bürgertum bezeichnen, war bis zur Mitte des 19. Jh. höchst unklar. Man sprach zunächst vom „Mittelstand“ – der zwischen dem Adel und dem „Pöbel“ bzw. den Arbeitern stand. Q Die arbeitende Classe, aus Taglöhnern, Handlangern und dergleichen bestehend, dürfte dem Bürgerstande eigentlich nicht zu- getheilt werden. (Schirninger, Österreich im Jahr 1840; zit. nach: Bruckmüller, Sozialgeschichte Öster- reichs, 2001, S. 231) Ab der Mitte des 19. Jh. scheint es, als ob nun der Begriff „Bürgertum“ an die Stelle des „Mittelstandes“ tritt und Besitz und Bildung zusammen- fasst. Schließlich wollte sich das Bür- gertum (französisch: Bourgeoisie) von der Arbeiterschaft scharf abgren- zen, weil gerade das Groß- bzw. Be- sitzbürgertum Arbeiter beschäftigte. Die französische Sprache kennt zwei Begriffe für „Bürger“: „Citoyen“ und „Bourgeois“. „Citoyen“ meint den stimm- und wahlberechtigten (Staats-)Bürger. Mit „Bourgeois“ werden im Laufe des 19. Jh. die An- gehörigen der Bourgeoisie bezeich- net. Das ist jene soziale Schicht (Klasse), welche im Gegensatz zur Arbeiterklasse die Produktionsmittel (= Fabriken, Maschinen) besitzt. Die Bürger – mit einer neuen politischen Idee Obwohl im Verlaufe der franzö- sischen Revolution das Bürgertum noch kein einheitlicher Stand war, wurde bereits damals der Begriff „Bürger“ dazu verwendet, um die Gleichheit der Menschen in einem neuen Zeitalter zu betonen. So wur- de beispielsweise dem französischen König Ludwig XVI. als „Bürger Lou- is Capet“ der Prozess gemacht und er wurde als solcher hingerichtet. Die Revolutionäre traten als „Bür- ger“ auf, um die Vorrechte des Adels und der hohen Geistlichkeit abzuschaffen. Sie sollten im Sinne der Aufklärung gleiche Rechte und politische Freiheit für alle Menschen des Staates erkämpfen. Die anschließenden Kriege gegen Napoleon haben in den meisten der beteiligten Länder einen Patriotismus und eine politische Anteilnahme am Staatsgeschehen vor allem der gebil- deteren und wohlhabenderen Men- schen geweckt. Sie wollten als Bür- ger im Staat eine freie Stellung errin- gen und politisch mitbestimmen. Das wirtschaftlich erfolgreiche Bür- gertum verlangte vom Staat den Schutz der Freiheit und des Privatei- gentums. Man forderte im Sinne des politischen Liberalismus Grundrech- te für die Menschen und eine Ge- waltenteilung im Staat. Zur Siche- rung einer solchen Ordnung ver- langte man nach einer Verfassung und entsprechenden Gesetzen. Durch dieses Interesse an der De- mokratisierung der Gesellschaft hat das Bürgertum den Adel nachhaltig geschwächt. Trotzdem sah man zu- nächst die bürgerlichen Freiheiten in einer konstitutionellen Monarchie am besten gewährleistet. Bürgerlicher Lebensstil Trotz der aufklärerischen Kritik am Adel orientierte sich das aufstreben- de Bürgertum an den Einstellungen und Verhaltensweisen des Adels. Erziehung und Bildung wurden als bedeutsam erachtet wie auch eine entsprechende Weltanschauung, die sich an der Aufklärung orientieren sollte. Das Auftreten in der Öffent- lichkeit drückte Unabhängigkeit und Selbstbewusstsein aus. Eine bestimmte Kleidung gehörte ebenso dazu wie das demonstrative Frei- zeitverhalten bei festlichen und künstlerischen Anlässen im Theater oder in der Oper, in Salons und mu- sikalischen Gesellschaften. Bürger- lich hieß dann so viel wie zivilisiert, aufgeklärt, gesittet, in ordentlichen Verhältnissen lebend. Das Bürgertum stellte die persönli- che Leistung in den Vordergrund (Leistungsprinzip) und sah in regel- mäßiger Arbeit und Pflichterfüllung wichtige Grundwerte. Diese kulturellen Ausdrucksformen, die sich als Lebensstil zusammenfas- sen lassen, waren das einigende Band der unterschiedlichen Gruppen des „neuen Bürgertums“. Längsschnitt: Gesellschaften im Wandel 59 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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