Zeitbilder 6, Schulbuch

(1712 bis 1714) in den österreichi- schen Ländern ein letztes Mal tausende Opfer forderte. − Pockenepidemien flackerten wäh- rend des gesamten 18. Jh. immer wieder auf. − Tuberkulose und Cholera wüteten im 19. Jh. vor allem unter der ar- men, in schlechten Wohnverhält- nissen lebenden Bevölkerung. − Ein wesentlicher Grund für das Elend der Massen war der Hunger. Die schwerste Hungerkatastrophe der Neuzeit brach 1709/10 über Europa herein. Letzte schwere Hun- gerjahre wegen schlechter Ernten forderten in der habsburgischen Monarchie 1766–1772, 1783–1786 und 1811–1818 zehntausende Opfer. Bettlerei und Armut Im Mittelalter sah man in der Unter- stützung von Bettlern und Armen die Möglichkeit, dafür selbst Lohn im Himmel zu erhalten. Armut wur- de damals als von Gott vorherbe- stimmtes Los verstanden. Ab dem 16. Jh. wurden die Armen und vor allem die Bettler als „un- würdige Arme“ gewertet. Sie galten als arbeitsscheu. In den Städten waren Anfang des 18. Jh. häufig bis zu einem Drittel der Bevölkerung Bettlerinnen und Bettler. Viele von ihnen waren abge- dankte Soldaten, Invalide, Soldaten- witwen und vagabundierende Sol- datenkinder. Aber auch Lehrlinge, arbeitslose Gesellen, Dienstboten und Tagelöhner, Hausierer, Zahn- brecher und Komödianten versuch- ten sich oftmals mit Bettelei über Wasser zu halten. Jenen Bettlerinnen und Bettlern, die beim Diebstahl ertappt wurden, droh- ten strengste Strafen, z.B. auf Galee- ren. Später versuchte man auch, sie als Soldaten nach Russland oder nach Amerika zu verkaufen. In Zucht- und Arbeitshäusern, die etwa seit Beginn des 18. Jh. in größeren Städten errich- tet wurden, wollte man diese Men- schen zu produktiver Arbeit zwingen und am „Herumstreunen“ hindern. In diesen Arbeitshäusern sollten Q „die leichtfertigen Weibsbilder, […] die starkhen und unwürdi- gen Bettler, […] das Herrn- und Hail- lose Gesindt […] die übermüthigen Dienstboten und Handwerks Pursch“ erfasst werden. Sie sollten „also 12 Stunden Zeit zur Arbeith, 2 Stunden zum Gebett, 2 zum Essen und Aus- rasten, dann 8 zum Schlaffen“ haben. (Aus dem Privileg Kaiser Leopolds I. für das Wiener Zuchthaus 1671 bzw. Johann Becher: Politischer Diskurs 1688, S. 644; zit. nach: Stekl, Österreichs Zucht- und Arbeitshäuser, 1978, S. 181 und 221) Die Besitzlosen – die große Mehrheit L Eine Untersuchung für Wien zeigt für das Jahr 1790, dass 65,5% der Verstorbenen Vermögenslose waren, vor allem Tagelöhner, Kutscher, Ross- knechte, Fuhr- und Schiffsleute und der gesamte Dienstleistungssektor waren davon betroffen. […] Aber auch 55% der Gewerbetreibenden, 40% der Beamten, 20% der Landwir- te starben besitzlos. (Stekl, Unterschichten und Obrigkeit im Wien des ausgehenden 18. Jh., 1985, S. 297) Ledige Mütter – uneheliche Kinder An den Rand der Gesellschaft ge- drängt und bisweilen ganz ausge- grenzt wurden auch die ledigen Müt- ter. (Heirat war in der Frühen Neuzeit ein Privileg, viele mussten unverhei- ratet bleiben.) Ihnen wurden unmora- lisches Verhalten und Sittenverfall vorgeworfen. Die Ächtung ging in manchen Gegenden bisweilen so weit, dass die Obrigkeit sicherstellen musste, dass diese Frauen „unge- brandschatzt kindbetten“ konnten, d. h. ohne Gefahr für ihr Leben ihr Kind zur Welt bringen konnten. Auch ihre unehelichen Kinder wur- den – oft bis in die Mitte des 20. Jh. – ausgegrenzt, denn Unehe- lichkeit wurde mit Unehrlichkeit gleichgesetzt. Im späten 18 Jh. errichtete der Staat für diese Frauen und ihre Kinder Gebär- und Findelhäuser. Dort konnten Frauen ihre Kinder auch anonym gebären bzw. abgeben. Damit sollten Kindsmord, Kindes- weglegung und Abtreibung be- kämpft werden. Doch in der Regel war die Todesrate der Kinder in solchen Findelhäusern sehr hoch. Im Wiener Findelhaus, welches 1784 von Joseph II. gegrün- det wurde und das bis 1910 Bestand hatte, wurden insgesamt 730.000 „Findlinge“ aufgenommen und weiter vermittelt. Von diesen star- ben 493.670 (das sind 68%) vor Er- reichung des zehnten Lebensjahres. (Vgl. Pawlowsky, Mutter ledig – Vater Staat, 2001, S. 200.) Geistige und körperliche Behinderungen Vor allem geistig Behinderte wurden bis in die zweite Hälfte des 18. Jh. wie wilde Tiere in „Irrenkottern“ gehalten. Erst mit dem „Narren- turm“ wurde eine besondere Ein- richtung für Geisteskranke als Teil des Allgemeinen Krankenhauses in Wien (1783/84) errichtet. Ebenso wurden Anstalten für Taubstumme unter Joseph II. eingerichtet. Dort wurde die Gebärdensprache unter- richtet. Kaiser Joseph II. hatte die Vorbilder dafür auf einer Reise nach Paris im Jahr 1777 kennen gelernt. Bauern und ländliche Unterschichten Rückgang der Agrarbevölkerung in Österreich 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 landwirtschaftliche Bevölkerung nichtlandwirtschaftliche Bevölkerung 1300 1400 1500 1600 1700 1800 1900 1980 Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs 2001, S. 203. Interpretiere die Grafik daraufhin, in welchen Zeiten sich der Anteil der landwirtschaftlichen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung besonders deutlich ändert. Erörtere die Situati- on in der Gegenwart. Die ländliche Bevölkerung – deutliche Unterschiede Das „Kaisertum Österreich“ war ganz überwiegend ein Agrarstaat. Die ländliche Bevölkerung machte bis gegen Ende des 18. Jh. etwa 80% der Gesamtbevölkerung aus. In man- chen Gegenden waren es auch mehr. Längsschnitt: Gesellschaften im Wandel 57 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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