Zeitbilder 6, Schulbuch

zeichnet blieben – von den seelischen Schäden ganz zu schweigen. […] Die Realität des Massensterbens und die traurige Erinnerung daran verstärkten den Eindruck der radikalen „Entwertung des Individu- ums“ […], der haften blieb. (Hürter, Totaler Krieg und Massenvernichtung. In: Andreas Wirsching (Hg.), Neueste Zeit. Oldenbourg Geschichte Lehrbuch 2006, S. 122) M6 Ein Soldat schreibt in einem Feldpostbrief über die psychischen Auswirkungen des Krieges: Durch große Überanstrengung besonders der letzten 3 Tage, bei denen unser Schützengraben von der feindlichen schweren Artillerie förmlich um- gewühlt worden ist, habe ich mir eine Nervenkrank- heit zugezogen. […] Nur wenige Stunden bin ich tagsüber auf, denn diese verflixte Krankheit hat sich auf meine unschuldigen Beine gelegt, sodass ich durch Schmerzen und Lähmung an den Beinen u. rechten Arm an meinem Fortkommen behindert bin. Man stelle sich den 92 kg Recken zwischen Betten, Stühlen u. Tischen mühsam weiterkrebsend vor. Der reine Hohn. (Feldpostbrief vom 21. Jänner 1915 von Franz Müller aus dem Lazarett. In: Ulrich, Ziemann (Hg.), Frontalltag im Ersten Weltkrieg. Wahn und Wirklichkeit, 1995, S. 103) M7 Kinder als Opfer des Krieges: Ein noch immer vielfach unerforschtes Thema: Eine unbekannte, aber wahrscheinlich bedeuten- de Anzahl von Kindern hat zudem die Erfahrung der Trauer durchleben müssen, Trauer um einen Bru- der, Cousin, Onkel und vor allem um den Vater. Die Gesamtzahl der Waisen in Europa lässt sich nicht mit letzter Gewissheit bestimmen. Geht man allerdings […] davon aus, dass jede Kriegerwitwe im Durch- schnitt zwei Kinder hatte, so kann man die Zahl von 6 Millionen Waisenkindern in Europa annehmen. […] Diese Trauer der Kinder – Trauer um den Vater, Trau- er um das Bild des Vaters – ist bislang kaum erforscht. (Audoin-Rouzeau, Kinder und Jugendliche. In: Enzyklopädie Erster Welt- krieg, hg. v. Hirschfeld, Krumeich, Renz, 2003, S. 140–141) M8 Der australische, in Großbritannien lehrende Historiker Christopher Clark erinnerte in seiner Eröffnungsansprache zu den Salzburger Festspielen 2014 „Wir sind nicht klüger als unsere Vorfahren“ an die weltpolitische Situation am Beginn des Ersten Weltkriegs und ihre Aktualität: Wir befinden uns – wie die Zeitgenossen vom Jahre 1914 – in einer zunehmend gefährlichen, multipolaren Welt, gekennzeichnet durch regionale Krisen, in denen zum Teil Großmachtinteressen ver- strickt sind. […] Gekennzeichnet war die Vorkriegs- welt – nicht anders als die Gegenwart – durch ein wachsendes Misstrauen unter den Mächten, auch innerhalb der Bündnisblöcke. […] Und wir dürfen schließlich auch die Urplötzlichkeit dieses Krieges nicht vergessen. Viele Zeitgenossen wogen sich in Si- cherheit: Der große Krieg, also ein Krieg zwischen den Großmächten, sei unmöglich geworden. Dafür wäre die moderne Welt zu eng durch Handels- beziehungen und finanzielle Abhängigkeitsverhält- nisse transnational vernetzt. […] Gefährlich ist [ge- genwärtig; Anm. d. A.] die Lage in Asien. Es gibt in dieser Region überhaupt keine regionalen oder globalen Mechanismen, die in eventuell vorkommen- den Konflikten effektiv vermitteln könnten. Verschärft wird die Gefahr durch die Existenz komplexer Bünd- nisstrukturen, durch welche sich regionale Konflikte mit den Verhältnissen zwischen Großmächten verzah- nen könnten. Man denke nur an die vielfältigen Ab- kommen zwischen Amerika einerseits und Japan, Südkorea, Taiwan, den Philippinen und Thailand an- derseits. Eine Eskalation in dieser Region könnte Kon- troversen zwischen den USA und China schlagartig verschärfen. […] Die Katastrophe des Jahres 1914 ist eine Mahnung, wie furchtbar die Folgen sein können, wenn die Politik versagt. Die Geschichte bleibt zwar nach wie vor – in den Worten Ciceros – „die große Lehrmeisterin des öffentlichen Lebens“. Da wir der Zukunft gegenüber blind sind, haben wir keine ande- re. Aber diese Lehrerin beschert uns keine eindeuti- gen Ratschläge. Sie gibt uns nur rätselhafte Orakel auf, über deren Bedeutung für die Gegenwart wir zum Nachdenken verpflichtet sind. (Zit. aus: Kleine Zeitung, 28.7.2014, S. 2–5). Fragen und Arbeitsaufträge 1. Arbeite anhand von M1 und M2 heraus, welche Bedingun- gen von Zeitgenossen in historischen Darstellungen für die Ausweitung dieses Krieges zu einem Weltkrieg genannt werden. Ziehe dazu auch das Unterkapitel „Julikrise und Kriegsausbruch“ (S. 142 f.) heran. 2. Analysiere anhand der Textstellen M3 die Verflechtungen zwischen Wirtschaft und Krieg. Stelle wirtschaftliche und finanzielle Folgen des Ersten Weltkrieges für einzelne Staa- ten, aber auch für die globale Entwicklung dar. 3. Vergleiche die Textstellen M5, M6 und M7 darauf hin, was Krieg an Leiden für Menschen mit sich bringt. Diskutiert anhand der Textstellen M6 und M7, welche menschlichen Probleme in der Beschäftigung mit Krieg häufig vernachläs- sigt werden. 4. Arbeite anhand der Textstelle M4 heraus, welche politi- schen Entwicklungen und Krisen sich aus dem Zerfall der Habsburgermonarchie und des Osmanischen Reiches erga- ben. Überprüfe mögliche Bezüge zu aktuellen politischen Szenarien. Haltet die Ergebnisse fest und diskutiert diese. 5. Analysiere die ausgewählten Textstellen aus der Rede von Christopher Clark (M8). Unterstreiche jene Stellen, wo er ausdrücklich Bezüge zu 1914 sowie zur Gegenwart her- stellt. Arbeite seine Einschätzung von der Bedeutung histo- rischer Erkenntnisse für gegenwärtige und mögliche zu- künftige politische Entwicklungen heraus. Beurteilt und diskutiert seine Schlussfolgerungen. Von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg 151 Nur zu Prüfzw cken K – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=