Zeitbilder 6, Schulbuch

Thomas Masaryk ruft in Philadelphia den tschechoslowakischen Staat aus. (Foto, 18.10. 1918) Hierbei setzten die Regierungen Deutschlands und Ös- terreichs große Hoffnungen auf die 14 Punkte des ame- rikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, die dieser im Jänner 1918 als Grundlage für einen Frieden prokla- miert hatte. Der amerikanische Präsident konnte sich die Verwirklichung seines Friedensplanes jedoch nur zwi- schen demokratisch gewählten Regierungen vorstellen. Dies war seiner Ansicht nach weder im Deutschen Reich noch in Österreich der Fall. Hier änderte sich aber in den letzten Wochen des Krie- ges sehr viel. Ende Oktober wurde Deutschland durch eine Verfassungsänderung zu einer parlamentarischen Monarchie. Nach weiteren revolutionären Unruhen er- folgte am 9. November in Berlin die Ausrufung der Re- publik. Am 11. November unterzeichnete Matthias Erz- berger als Beauftragter der neuen Regierung den Waf- fenstillstand. Im Oktober 1918 zerfiel auch der Vielvölkerstaat der Habsburger in eine Reihe von „Nachfolgestaaten“. Am 3. November wurde der Waffenstillstand unterzeichnet und am 12. November erfolgte die Ausrufung der Repu- blik „Deutsch-Österreich“, nachdem Kaiser Karl I. auf die weitere Ausübung der Regierungsgeschäfte verzich- tet hatte. Neue Ordnungen Die Welt hatte sich gegenüber 1914 durch politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen grundlegend gewandelt. In Russland entstand der erste kommunistische Staat. Auch in Deutschland, Österreich-Ungarn und im Osma- nischen Reich stürzte die monarchische Ordnung. Repu- bliken entstanden. Parlamentarische Demokratie und Verfassungsstaat erfuhren neuen Auftrieb. In vielen Staaten gewannen die Arbeiterparteien politischen Ein- fluss und konnten sogar bei Regierungsbildungen eine entscheidende Rolle spielen. Doch die Zahl derer, die mit dieser neuen Ordnung nicht leben wollte oder durch den Krieg einen sozialen Abstieg erlebt hatte, war groß. Sie erlebten die Umwälzungen als Zusammenbruch. An- dere sahen darin neue Chancen. Wieder anderen gingen sie zu wenig weit. Die Ansicht, die großen gesellschaft- lichen Auseinandersetzungen stünden erst bevor, war daher weit verbreitet. Am Ende des Krieges gab es militärische Sieger und Be- siegte, doch ökonomisch hatten mit Ausnahme der USA und Japans praktisch alle den Krieg verloren. Hinzu kam die jahrelange Kriegspropaganda, die den jeweili- gen Gegner entweder zum Ungeheuer gemacht oder der Lächerlichkeit preisgegeben hatte. Konnten deren Aus- wirkungen über Nacht beseitigt werden? Und was war vor allemmit dem unermesslichen Leid, das dieser Krieg bereitet hatte? Rund 10 Millionen Menschen hatten ihr Leben verloren, weitere 20 Millionen waren verwundet worden und blieben vielfach ihr Leben lang körperlich und seelisch verkrüppelt. Ungeheure Ressourcen wur- den zerstört. Vor diesem Hintergrund begannen im Jän- ner 1919 in Paris die Friedensverhandlungen. Die Besiegten des Krieges waren von den Friedensver- handlungen ausgeschlossen. Sie wurden von den USA, Großbritannien, Frankreich und Italien bestimmt. Außer ihnen nahmen noch die Vertreter jener Staaten teil, die als Verbündete gegen die Mittelmächte gekämpft hatten. Folgende Friedensverträge wurden geschlossen: – der Vertrag von Versailles mit Deutschland, – der Vertrag von Saint Germain-en-Laye mit Öster- reich und der Vertrag von Trianon mit Ungarn, – der Vertrag von Neuilly mit Bulgarien, – die Verträge von Sévres bzw. Lausanne mit dem Os- manischen Reich bzw. mit der Türkei. Abrüstung, Kriegsentschädigung und neue Staatsgren- zen waren Hauptprobleme der Verträge, wobei neue Grenzen vor allem Deutschland im Osten betrafen. Vie- le der kleinen Nationen erhielten ihre staatliche Unab- hängigkeit. Damit hoffte man, das spannungsgeladene Nationalitätenproblem der Vorkriegszeit zu lösen. Doch auch viele der neuen Staaten waren ethnisch un- terschiedlich zusammengesetzt. Minderheiten sahen sich bald wieder unterdrückt oder benachteiligt. Häufig durchschnitten die Grenzen auch gemischt besiedelte Gebiete. Das führte zu neuen Problemen in diesen Ge- bieten. Fragen und Arbeitsaufträge 1. Arbeite heraus: – welche politischen Folgen sich für die besiegten Mächte ergaben; denke dabei z. B. an die Staatsform; – welche wirtschaftlichen und sozialen Folgen für die Men- schen in den europäischen Ländern spürbar waren. 2. Ermittle anhand der Karte die Staatenwelt in Europa und Vorderasien vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Diskutiert die neuen Grenzverläufe und deren mögliche Folgen. Denkt dabei z. B. an Minderheiten. Von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg 149 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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