Zeitbilder 6, Schulbuch

Die Automatik der Bündnisverträge und der strategi- schen Planungen trug dazu wesentlich bei: 29. Juli: Teilmobilmachung Russlands 30. Juli: Generalmobilmachung Russlands 31. Juli: Generalmobilmachung Österreich-Ungarns; Ultimatum Deutschlands an Russland um Rücknahme der Mobilmachung und an Frankreich um Erklärung der Neutralität im Falle eines deutsch-russischen Krieges 1. Aug.: Französische Ablehnung des Ultimatums und Mobilmachung; deutsche Mobilmachung und Kriegserklärung an Russland 2. Aug.: Englische Mobilmachung der Flotte 3. Aug.: Deutsche Kriegserklärung an Frankreich; Überfall auf das neutrale Belgien 4. Aug.: Englische Kriegserklärung an Deutschland Die Mobilmachung dauerte in Russland relativ lange, wäh- rend sie in Deutschland innerhalb weniger Tage erfolgte. Verbreitete Kriegsbegeisterung versus Pazifismus Zu Beginn des Krieges zeigte sich, dass die Bemühun- gen um den Frieden wenig bewirkt hatten. Viele Jahre später erinnerte sich Stefan Zweig an die ersten August- tage des Jahres 1914: Q In jeder Station klebten die Anschläge, welche die allgemeine Mobilisation angekündigt hatten. Die Züge füllten sich mit frisch eingerückten Rekruten. Fahnen wehten, Musik dröhnte, in Wien fand ich die ganze Stadt in einem Taumel […]. Aufzüge formierten sich […], die jungen Rekruten marschierten im Triumph dahin, und ihre Gesichter waren hell, weil man ihnen zujubelte, ihnen, den kleinen Menschen des Alltags, die sonst niemand beachtet […]. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muss ich bekennen, dass in diesem ers- ten Aufbruch der Massen etwas Großartiges […], sogar Verführerisches lag […]. Wie nie fühlten sich […] hun- derttausende Menschen, was sie besser im Frieden hät- ten fühlen sollen: Dass sie zusammengehören. (Zweig, Die Welt von gestern, 1955, S. 206 f.) Erörtere die Motive für die Kriegsbegeisterung, die Stefan Zweig anführt. Diskutiert das Verhältnis von Individuum und Masse. L Auch die Sozialisten verhielten sich als Patrioten, um das Vaterland zu schützen. Deutschland ge- gen den russischen […] oder Frankreich gegen den deutschen Imperialismus […]. Am 4. August stimmte die französische Arbeiterpartei den Kriegskrediten zu, ebenso die deutsche sozialdemokratische Reichs- tagsfraktion. (Schulin, Erster Weltkrieg, 1990, S. 379) Symbolisch für die aufgeheizte nationalistische Atmo- sphäre war die Ermordung des sozialistischen Parteifüh- rers und Pazifisten Jean Jaurés durch einen franzö- sischen Nationalisten am 31. Juli 1914 in Paris. Es gab aber nicht nur Begeisterung. Käthe Leichter z. B. schrieb: Q Ich erinnere mich, mit meiner Schulfreundin Thil- de auf dem Balkon unserer Wohnung gesessen zu sein und ihr auseinandergesetzt zu haben, dass die Hauptsache sei, dass endlich einmal Bewegung […] an die Stelle der bisherigen Starrheit trete. Thilde hat- te Brüder, die vor dem Einrücken standen und an- scheinend die Dinge anders betrachteten. Denn sie sagte zu mir: „Wie kannst du nur diesen mit Absicht fabrizierten Quatsch so gedankenlos nachreden?“ Das machte mich wohl nachdenklich, aber die Stim- mung und Bewegtheit um mich herum sagte mir zu. (Leichter, Lebenserinnerungen; in: Käthe Leichter, Leben und Werk, 1973, S. 343) Vergleiche die Aussagen Leichters und Zweigs. Diskutiert die Rolle der Propaganda in Zusammenhang mit Krieg. Diese Gegenstimmen waren selten. Zu ihnen zählte der Berliner Pazifist Georg F. Nicolai. Er gründete eine pazi- fistische Organisation, an der auch Albert Einstein mit- arbeitete. Einstein beklagte u. a. den Zusammenbruch der kulturellen und menschlichen Beziehungen. Ähnlich empfanden Romain Rolland in Frankreich und Arthur Schnitzler in Österreich. Alfred Polgar, Franz Werfel und Karl Kraus hielten sich ebenfalls fern von propagandis- tischer Betätigung. Kriegsbegeisterte Jugend auf dem Pariser Platz. Die Kriegsbegeiste- rung in Berlin und Paris überdeckte politische und soziale Gegensätze. Wilhelm II. sagte: „Ich kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche“. (Zit. nach: Schulin, Erster Weltkrieg, 1990, S. 377). (Foto, Berlin, 1914) Fragen und Arbeitsaufträge 1. Erarbeite Gründe dafür, warum der Balkan eine besondere Krisenregion in Europa gewesen ist. 2. Betrachte das Foto oben und halte erste Eindrücke fest. Erläutere, was die jungen Männer durch das Schwenken ihrer Hüte ausdrücken wollten. Setze dieses Foto in seinem Gesamtausdruck zum Text von Stefan Zweig in Beziehung. 3. Erörtere Gründe dafür, die es den Pazifisten schwermach- ten, mit ihren Friedensbemühungen erfolgreich zu sein. Beziehe dazu auch Kapitel 19 (Karte, Bilder) mit ein. Von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg 143 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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