Zeitbilder 6, Schulbuch

Neben den politischen Zielen verfolgte der Liberalismus von Anfang an vor allem auch Ziele zur Neugestaltung der Wirtschaft. Die zentralen Ideen zu dieser Entwick- lung sind. v. a. von England ausgegangen. England: Adel und Bürgertum setzen die Wirtschaftsfreiheit durch Im Gegensatz zu Kontinentaleuropa hatte sich in Eng- land seit dem 17. Jh. die ständische Ordnung gelockert: Kleinadel und besitzendes Bürgertum waren durch Hei- raten miteinander verbunden. Sie konnten auch poli- tisch mitbestimmen. Als Eigentümer von (Groß-)Grund- besitz und Kapital waren sie im Parlament vertreten, das seit der Glorreichen Revolution im Jahre 1688 (vgl. S. 41) entscheidend an der Gesetzgebung mitwirkte. Während auf dem europäischen Festland die Herrscher absolut regierten und die Wirtschaft dem Staat völlig un- tergeordnet war (= Merkantilismus), setzten in England Adel und Bürgertum ihre politischen Freiheiten auch im Wirtschaftsleben durch: Es gab keine Wirtschaftsmonopole und auch die Zünfte wurden abgeschafft, die bisher den freien Wettbewerb in der Wirtschaft verhindert hatten. Der Staat überließ die Wirtschaft den privaten Unternehmern. Der grund- besitzende Hochadel investierte ohne Standesdünkel sein Kapital ebenso in Produktion, Handel und Gewerbe wie die Unternehmer aus dem Groß- und Kleinbürger- tum oder aus dem Bauernstand. Die Calvinisten fordern Fleiß und Sparsamkeit Der Kampf gegen die staatliche Bevormundung und für den wirtschaftlichen Liberalismus wurde vor allem von den Calvinisten geführt, die in England viele Anhänge- rinnen und Anhänger hatten. Entsprechend ihrer Reli- gion gehörten Fleiß und Sparsamkeit zu einer gottge- fälligen Lebensführung. Diese Einstellung galt ebenso für die Arbeiterschaft. Auch von ihr wurde größte Ar- beitsdisziplin gefordert. Unter diesen Voraussetzungen konnte sich auch die Wirtschaftsform des Kapitalismus rasch entfalten. Der berühmte deutsche Soziologe Max Weber interpretierte die calvinistische Wirtschaftsethik so: Q Das sittlich wirklich Verwerfliche ist nämlich das Ausruhen auf dem Besitz, der Genuss des Reich- tums mit seiner Konsequenz von Müßigkeit und Flei- scheslust. […] Nur Handeln dient nach dem unzweideutig geoffen- barten Willen Gottes zur Mehrung seines Ruhms. Zeitvergeudung ist also die erste und prinzipiell schwerste aller Sünden […]. Zeitverlust durch Gesel- ligkeit, „faules Gerede“, Luxus, selbst durch mehr als der Gesundheit nötigen Schlaf – 6 bis höchstens 8 Stunden – ist sittlich absolut verwerflich. […] Der paulinische Satz: „Wer nicht arbeitet, soll nicht es- sen“, gilt bedingungslos und für jedermann. (Weber, Asketischer Protestantismus und kapitalistischer Geist; in: Mickel u. a., Politik und Gesellschaft, Bd. 1, 1976, S. 117 f.) Nimm persönlich Stellung dazu, wie du zu den „Tugenden“ Fleiß und Sparsamkeit stehst. Erläutere deine Einstellung zur Arbeit. Formuliere mindestens zwei Pro- und zwei Kon- tra-Argumente zum Thema „bedingungsloses Grundeinkommen“. „Eine freie Wirtschaft reguliert sich selbst!“ Die theoretischen Grundlagen der liberalen Wirschafts- auffassung schuf der schottische Nationalökonom Adam Smith (1723–1790). Er forderte bereits 1776 freien Markt und freien Wettbewerb (= Konkurrenzprinzip). Eine freie Wirtschaft (nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage) würde sich wie die Natur immer wieder selbst regulieren. Staatliche Eingriffe in die Wirtschaft, meinte Smith, würden nur die Initiative der Unterneh- mer, damit aber auch die Produktion, den Handel und somit den Wohlstand eines Landes gefährden: Q Stets sind alle Menschen darauf bedacht, die für sie rentabelsten Anlagen ihrer Kapitalien ausfin- dig zu machen, d. h. diejenigen, in denen die höchsten Gewinne erzielt werden. Jeder glaubt, nur sein eigenes Interesse im Auge zu haben, tatsächlich aber erfährt so indirekt auch das Gesamtwohl der Volkswirtschaft die beste Förderung. […] Verfolgt er nämlich sein eigenes Interesse, so fördert er damit indirekt das Gesamtwohl viel nachhaltiger, als wenn die Verfolgung des Gesamt- interesses unmittelbar sein Ziel gewesen wäre. Ich habe nie viel Gutes von denen gehalten, die angeblich für das allgemeine Beste tätig waren. (Smith, Untersuchungen über Natur und Ursprung des Volkswohlstan- des (1776); in: Mickel u. a., Politik und Gesellschaft, 1976, S. 118) Beurteile die Aussagen von Smith, inwiefern sich deiner Meinung nach das wirtschaftliche Interesse einer einzel- nen Person positiv auf die Gesamtwirtschaft auswirken kann. Überlege, ob es auch negative Auswirkungen haben könnte, und wenn ja, welche? Bewerte im letzten Satz von Smith, welche Personen er gemeint haben könnte. Kapitalanhäufung und Wirtschaftswachstum Smith teilte die Gesellschaft in verschiedene ökonomische Klassen ein: Er unterschied zwischen Produzenten und Verbrauchern des Reichtums. Nur die Arbeit, bei der „greifbare“ Waren produziert werden, war für ihn produk- tive Arbeit. Dienstleistungen und Grundbesitz zählten für ihn nicht dazu. Für die Vermehrung des Wohlstandes war seiner Meinung nach vor allem der sparsame Unternehmer (= Kapitalist) verantwortlich, der sein Kapital möglichst ge- winnbringend in die weitere Produktion investierte. Q Der jährliche Ertrag aus Land und Arbeit irgend- einer Nation kann in seinem Wert nur gesteigert werden, indem man entweder die Zahl der in der Pro- duktion beschäftigten Arbeiter oder die Produktiv- kraft der schon Beschäftigten erhöht. Es ist einleuch- tend, dass man die Zahl […] der Arbeiter nie bedeu- Von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg 129 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verla s öbv

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