Zeitbilder 6, Schulbuch
Papst Franziskus schreibt in der Enzyklika „Laudato Si‘“ (2015) „Über die Sorge für das gemeinsame Haus“: 48. […] Tatsächlich schädigen der Verfall der Um- welt und der der Gesellschaft in besonderer Weise die Schwächsten des Planeten. […] So beeinträchtigt zum Beispiel die Erschöpfung des Fischbestands spe- ziell diejenigen, die vom handwerklichen Fischfang leben und nichts besitzen, um ihn zu ersetzen; die Ver- schmutzung des Wassers trifft besonders die Ärmsten, die keine Möglichkeit haben, abgefülltes Wasser zu kaufen, und der Anstieg des Meeresspiegels geht hauptsächlich die verarmte Küstenbevölkerung an, die nichts haben, wohin sie umziehen können. Die Auswir- kung der […] Unordnung zeigt sich auch im vorzeiti- gen Sterben vieler Armer, in den Konflikten, die durch Mangel an Ressourcen hervorgerufen werden. […] 50. Anstatt die Probleme der Armen zu lösen und an eine andere Welt zu denken, haben einige nichts an- deres vorzuschlagen als eine Reduzierung der Gebur- tenrate. […] Es ist der Versuch, auf diese Weise das gegenwärtige Modell der Verteilung zu legitimieren, in dem eine Minderheit sich für berechtigt hält, in ei- nem Verhältnis zu konsumieren, das unmöglich verall- gemeinert werden könnte, denn der Planet wäre nicht einmal imstande, die Abfälle eines solchen Konsums zu fassen. Außerdem wissen wir, dass etwa ein Drittel der produzierten Lebensmittel verschwendet wird und dass „Nahrung, die weggeworfen wird gleichsam vom Tisch des Armen […] geraubt wird“. […] 93. Heute sind wir uns unter Gläubigen und Nicht- gläubigen darüber einig, dass die Erde im Wesentli- chen ein gemeinsames Erbe ist, dessen Früchte allen zugutekommen müssen. […] Die christliche Tradition hat das Recht auf Privatbesitz niemals als absolut und unveräußerlich anerkannt und die soziale Funktion jeder Form von Privatbesitz betont. […] 129. Damit es weiterhin möglich ist, Arbeitsplätze an- zubieten, ist es dringend, eine Wirtschaft zu fördern, welche die Produktionsvielfalt und die Unternehmer- kreativität begünstigt. Es gibt zum Beispiel eine große Mannigfaltigkeit an kleinbäuerlichen Systemen für die Erzeugung von Lebensmitteln, die weiterhin den Großteil der Weltbevölkerung ernährt, während sie einen verhältnismäßig niedrigen Anteil des Bodens und des Wassers braucht und weniger Abfälle produ- ziert. […] Damit es eine wirtschaftliche Freiheit gibt, von der alle effektiv profitieren, kann es manchmal notwendig sein, denen Grenzen zu setzen, die größe- re Ressourcen und finanzielle Macht besitzen. (http://w2.vatican.va/content/francesco/de/encyclicals/documents/ papa-francesco_20150524_enciclica-laudato-si.html; 18. 4. 2016) Der österreichische Historiker Roman Sandgruber über die Wohnsituation in Wien in den letzten Jahrzehnten der Habsburgermonarchie: Während des dritten Viertels des 19. Jh. rechnete man, dass nur knapp die Hälfte der Wiener Be- völkerung an einer eigenen Wohnung Anteil hatte. Die übrige Wohnbevölkerung verteilte sich auf Unter- mieter und Bettgeher sowie beim Arbeitgeber oder in M3 M4 Anstalten wohnende Personen. […] 1869 betrug der Anteil der Untermieter und Bettgeher 24,5%. […] Auch wenn bis 1910 unzweifelhaft eine Reduktion der Bettgeher und Untermieter zu verzeichnen war, so wa- ren die Wohnverhältnisse im Bereich der Arbeiter- wohnungen noch immer beengt genug. Von den 119 Wiener Arbeiterfamilien, die sich in den Jahren 1912/14 zur Führung von Haushaltsbüchern bereit er- klärt hatten, beherbergte rund ein Drittel Untermieter oder Bettgeher, und zwar meist mehr als einen. Nur in fünf Fällen schliefen die Familie und die Bettgeher in getrennten Räumen, sonst nur in einem Zimmer. […] Die schlechteste Situation fanden die Zuwanderer vor. […] Für die Zuwanderer war der Platz bei einem Handwerker oder ein Bett als Bettgeher in der Regel die erste Station in Wien. […] Es wurde erwartet, dass der Bettgeher nur zum Schla- fen die Wohnung aufsuchte: „In der Regel haben wir“, schreibt Böhm [ein damaliger Bettgeher, der spätere Präsident des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, Anm. d. A.], „da Bettgeher zu Hause ja nicht gern gese- hen waren, Sonntagsspaziergänge unternommen, wo- bei ich die Stadt kennenlernte, […] oder aber sind wir – wenn wir müde waren – in Parks herumgesessen.“ (Sandgruber, Die Anfänge der Konsumgesellschaft, 1982, S. 366 f.) Fragen und Arbeitsaufträge 1. Verfasse mit Hilfe des Autorentextes in den Kapiteln 10 und 11 sowie deinen Recherchen zur Kinderarbeit (S. 124 f.) eine eigene Darstellung zur „Sozialen Frage“ im 19. Jh. 2. Vergleiche die Darstellung im Kapitel 10 mit der Darstellung in M1. Erörtere vor allem, inwieweit dir die beiden Darstel- lungen „objektiv“ oder wertend erscheinen. 3. Überprüfe nun deine eigene Darstellung hinsichtlich Objek- tivität bzw. Wertung und vergleiche sie mit den beiden anderen. 4. Arbeite die Unterschiede und Gemeinsamkeiten heraus, die zwischen der Enzyklika „Rerum Novarum“ (S. 123) und dem Sozialhirtenbrief (M2) bestehen, in Bezug auf: – Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, – Haltung der Kirche gegenüber Sozialisten bzw. Gewerkschaften, – Kritik an den Arbeits- und Lohnbedingungen. 5. Informiere dich über gegenwärtige Arbeitsbelastungen und Lohnverhältnisse in Österreich und vergleiche sie mit den Bedingungen des 19. Jh. 6. Benenne und analysiere die wesentlichen Inhalte, die in den Auszügen der Enzyklika „Laudato Si‘“ (M3) dargestellt werden. 7. Erörtere die Haltung des Papstes zu den Themen Armut, Bevölkerungsentwicklung und Umwelt. Nimm Stellung zu seinen Lösungsvorschlägen. 8. Entwickelt in Kleingruppen ein sozial gerechtes Zukunfts- konzept für unsere Welt: Formuliert dazu (mindestens) fünf Punkte, die für eine Verwirklichung notwendig sind. 9. Beschreibe die geschilderten Wohnverhältnisse in Wien (M4) und vergleiche sie mit deinen eigenen und jenen in deinem Bekanntenkreis. Beurteile diese Wohnverhältnisse aus heutiger Sicht in Bezug auf Zumutbarkeit. Von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg 127 Nur zu Prüfzwecken – Eig entum des Verlags öbv
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