Zeitbilder 6, Schulbuch

Die Arbeit mit den Darstellungen auf dieser Doppelseite sowie in den vorherigen Kapiteln dient dazu, Historische Orientierungs- kompetenz weiterzuentwickeln. Das historische Thema dazu bildet „Die ‚Soziale Frage‘ – einst und heute“. Die Erkenntnisse, die du aus der Analyse und Interpretation der Texte gewinnen kannst, sollen dich zu einer begründeten Bewertung dieses ge- sellschaftspolitischen Themas befähigen. Außerdem sollen sie dir Orientierung im Umgang mit heutigen und zukünftigen so- zialen Fragen bieten. Beschreibung der „Sozialen Frage“ in einem deutschen Arbeitsheft für Geschichte: Abhängigkeit ohne Sicherheit Das größte Problem in den Jahrzehnten der ge- sellschaftlichen Umformung vom Agrarstaat zum In- dustriestaat wurde verursacht durch die Abhängig- keit, in die viele Menschen erstmals gerieten, ohne irgendwie abgesichert zu sein. Wer seinen Arbeits- platz in der Fabrik verlor – aus welchen Gründen auch immer –, fand sich buchstäblich mit leeren Hän- den auf der Straße wieder. Es gab keine Versicherung, die bei Krankheit oder Unfall mit Zahlungen ein- sprang. Auch war der Lohn der Fabrikarbeiter so niedrig, dass meist alle Familienmitglieder mitarbei- ten mussten. Da so viele Menschen zur Verfügung standen, die Arbeit suchten, kam auf dem freien Ar- beitsmarkt das ökonomische Gesetz von Angebot und Nachfrage zur Wirkung: wovon viel vorhanden ist, das wird niedrig bewertet. Das galt auch für die Ar- beitskraft der Menschen. Die einfachen Arbeiter und vor allem die Frauen wurden schlecht bezahlt. Als alleinige Verursacher des Elends werden meist die Unternehmer genannt. Die Mehrzahl der Unterneh- mer aber handelte nach bestem Wissen korrekt, viele waren ausgesprochen sozial eingestellt. Sie kümmer- ten sich in geradezu vorbildlicher Weise um die Ar- beiter. […] Ein besonders düsteres Kapitel der Industriellen Re- volution war die Kinderarbeit. Doch auch hier darf man nicht übertreiben. Alle seither veröffentlichten Einzelheiten zur Kinderarbeit gehen ausnahmslos zu- rück auf einen einzigen Bericht, den ein damaliges Parlamentsmitglied in England verfasste. Wie die jün- gere Forschung zeigt, sind Teile dieses Berichts über- trieben oder gar falsch. Natürlich gab es Kinderar- beit, und die Zustände waren alles andere als gut. Auch das Wohnungselend war groß. Sofern die Kin- der nicht arbeiteten, waren sie vielerorts in dunklen, schmutzigen „Löchern“ sich selbst überlassen. Be- trachtet man all das, so wundert es nicht, dass sich alsbald Bewegungen bildeten, welche sich die Lö- sung der „Sozialen Frage“ zum Ziel setzten. (Weinrich, Lernwerkstatt Die Industrielle Revolution, 2007, S. 23) M1 13. Die „Soziale Frage“ – einst und heute „Sozialhirtenbrief“ der österreichischen Bischöfe 100 Jahre nach der Enzyklika Papst Leos XIII.: Die Kirche […] hat den liberalistischen Kapitalis- mus des vergangenen Jahrhunderts abgelehnt, weil er für ein „nahezu sklavisches Joch“ des Prole- tariates verantwortlich war. Sie hat das kollektivisti- sche [= kommunistische, Anm. d. A.] Wirtschaftssys- tem verurteilt, weil es die Person des Menschen zu einem Objekt entwertete. […] Wo aber nach Gottes Bild geschaffene, freie, selbstverantwortliche Perso- nen […] zusammenarbeiten, sind die Achtung vor der Würde des Menschen, das Recht auf Mitverantwor- tung und Mitbestimmung und die Vermenschlichung der Arbeitswelt vorrangig. […] Wir anerkennen den Beitrag der Gewerkschaften für den wirtschaftlichen und sozialen Aufbau und für die Erhaltung des sozialen Friedens. Ohne die solidari- sche Zusammenarbeit von Arbeitgebern und Arbeit- nehmern […] wäre es unmöglich gewesen, den heuti- gen Wohlstand und die soziale Sicherheit zu erwirt- schaften. Wir anerkennen […] all das, was durch das verantwortliche Handeln der Unternehmer geschaf- fen wurde. […] Österreich braucht […] Unternehmer, die in den Arbeitnehmern nicht Produktionsfaktoren, sondern Mitarbeiter sehen; […] dazu gehört wesent- lich die Möglichkeit der Mitverantwortung und Mit- bestimmung. […] Die Kirche kennt eine zweifache Aufgabe der Organisation der Arbeitnehmer. Sie muss einerseits die „berechtigten Forderungen“ der Arbeitnehmer […] vertreten. Sie muss andererseits auch einen „wirksamen Beitrag“ zur Gestaltung des Wirtschaftslebens leisten. Die Verwirklichung dieser zweifachen Aufgabe kann zu Spannungen und Kon- flikten führen. Schon das Sozialrundschreiben Qua- dragesimo anno [von Pius XI., 1931, Anm. d. A.] spricht von der Möglichkeit und sogar Notwendigkeit des „Kampfes“ zur Verwirklichung der sozialen Ge- rechtigkeit. Der große Unterschied gegenüber der marxistischen Theorie des Klassenkampfes besteht darin, dass die bestehenden Gegensätze nicht als un- überwindbar betrachtet werden. […] Zweifellos gibt es in Österreich viele Menschen, die mit ihrer Arbeit zufrieden sind. […] Wir begegnen aber auch Aussagen, die uns besorgt machen. […] Männer, Frauen und Jugendliche klagen über Arbeitszeiten, welche die gesetzlich festgelegten Normen bei weitem überschreiten. Leistungsdruck und Arbeitsstress wer- den zu einer Bedrohung der Gesundheit. […] Aus Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes werden Si- tuationen in Kauf genommen, die eine schwere Belas- tung darstellen. Wir hören da und dort von einer Ent- lohnung, die in keinem Verhältnis zur geleisteten Ar- beit steht. […] Wir wissen von politischem Gesinnungs- druck, dem man sich unterwerfen muss, um den Ar- beitsplatz zu behalten und beruflich weiterzukommen. (Sekretariat der Österreichischen Bischofskonferenz (Hg.), Sozialhirten- brief der katholischen Bischöfe Österreichs, 1990) M2 126 Kompetenztraining Historische Orientierungskompetenz Erkenntnisse von eigenen Darstellungen der Vergangenheit sowie von Darstellungen der Vergangenheit, die andere angefertigt haben, zur individuellen Orientierung in der Gegenwart und Zukunft nutzen Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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