Zeitbilder 6, Schulbuch

10. Folgen der Industrialisierung – die „Soziale Frage“ Soziale Frage" im 19. Jahrhundert Überlange Arbeitszeit; niedriger Lohn; fehlende Sicherheitsvor- kehrungen; Abhängigkeit vom Unternehmer – Inhumane, entfremdete Arbeit – Gesundheitliche Schäden – Wohnungselend – Keine soziale Sicherheit (Krankheit, Unfall, Alter) – Soziale und politische Deklassierung Konkurrenz; Frauen- und Kinderarbeit Leben am Exis- tenzminimum; Armut, Hunger, Elendsquartiere Politische Recht- losigkeit; Streik- und Koalitionsverbot " Der Wandel in der Gesellschaftsordnung Der Eintritt in das Industriezeitalter verursachte einen tief greifenden gesellschaftlichen Wandel: In der vorin- dustriellen Agrargesellschaft hatte der grundbesitzende Adel die Führungsposition inne. In der Industriegesell- schaft übernahm das Kapital besitzende städtische Bür- gertum diese Rolle. Die Basis der neuen Gesellschaftsordnung bildete der neue, zahlenmäßig starke „Vierte Stand“, die (Industrie-) Arbeiterschaft. Die entwürdigende soziale und wirt- schaftliche Lage dieses Standes wurde zum gesellschafts- politischen Problem des 19. Jh., zur „Sozialen Frage“. Der explosionsartige Anstieg der Stadtbevölkerung Das schon im 18. Jh. einsetzende Bevölkerungswachs- tum nahm im Lauf der „Ersten Industriellen Revolution“ weiter deutlich zu. Dafür gab es mehrere Ursachen: Die Fortschritte in Me- dizin und Hygiene, die bessere Nahrungsmittelversor- gung, aber auch die so genannte Bauernbefreiung und die Gewerbefreiheit. Nun war es den Untertanen erlaubt, ihren Wohnsitz und ihren Beruf frei zu wählen; vor allem aber: Sie brauchten keine Erlaubnis mehr zur Heirat einholen. Damit erhöh- ten sich die Geburtenzahl und die Zuwanderung in die Städte. Viele Bäuerinnen und Bauern verkauften nämlich ihr kleines, oft unrentables Stück Boden. Auch die ländli- chen Heimarbeiterinnen und -arbeiter waren mit ihren Produkten gegenüber den billigeren Fabrikerzeugnis- sen nicht konkurrenzfähig. So trieb die wachsende Armut die Masse der ländlichen Bevölkerung in die z. T. neu gegründeten, explosionsar- tig anwachsenden Industriestädte (= Landflucht). Dort war ihre Lebenssituation jedoch oftmals noch schlechter: Die Menschen wohnten in Elendsquartieren und Hun- ger war ihr ständiger Begleiter. Millionen von Menschen, die auch in den Städten keine Überlebenschance sahen, wanderten im Laufe dieses Jahrhunderts nach Übersee, hauptsächlich in die USA, aus. Die industrielle Reservearmee Nach Auffassung der klassischen Nationalökonomie galt die Arbeitskraft als Ware, deren Preis sich nach Angebot und Nachfrage richtete. Das Überangebot an Arbeits- kräften erlaubte es deshalb den Unternehmern, die Löh- ne oft bis unter das Existenzminimum zu senken. Die Unternehmer hatten auch andere Argumente für die Hungerlöhne: Die Ware müsse wegen der großen Kon- kurrenz billig sein und der rasche technische Fortschritt verlange kapitalintensive Investitionen. Arbeiterinnen und Arbeiter, die wegen der niedrigen Löhne murrten oder aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeitsfähig waren, wurden durch andere ersetzt. Diese bettelten schon vor dem Fabriktor um Ar- beit. Die durchschnittliche Arbeitsfähigkeit in den englischen Industriestädten betrug 15 Jahre. Bevölkerung großer europäischer Städte 1800–1910 (in 1 000) 1800 1850 1880 1910 Amsterdam 201 224 317 567 Berlin 172 419 1122 2 071 Budapest 54 178 371 880 Glasgow 77 345 587 784 Hamburg 130 132 290 932 Konstantinopel 600 – – 1 200 Kopenhagen 101 127 235 462 Liverpool 82 376 553 746 London 1 117 2 685 4 770 7 256 Madrid 160 281 398 572 Manchester 75 303 341 714 Moskau 250 365 612 1 481 München 40 110 230 595 Paris 547 1 053 2 269 2 888 Prag 75 118 162 225 Rom 153 175 300 539 St. Petersburg 220 485 877 1 907 Warschau 100 100 252 856 Wien 247 444 726 2 030 (Britische Städte: B. R. Mitchell und Phyllis Deane, Abstract of British Historical Statistics, Cambridge 1962; andere Städte: Das französische Annuaire Statistique 1966) Ermittle den Bevölkerungszuwachs in den angeführten Städten und erstelle eine Rangliste für folgende Perioden: a) 1800–1850, b) 1850–1910, c) 1800–1910. Keine Sozialgesetzgebung, kein Arbeiterschutz Es herrschte strengste Arbeitsdisziplin. Wer nur zehn Minuten zu spät am Arbeitsplatz erschien, erhielt mitun- ter einen halben Tageslohn abgezogen; war ein Produkt fehlerhaft, musste die Arbeiterin oder der Arbeiter Stra- fe zahlen. Es gab keine Altersversorgung, keine Unfall- versicherung und keinen Schutz gegen unternehmeri- sche Willkür. Die staatliche Obrigkeit griff in die „freie Wirtschaft“ nicht ein. Polizei und Militär kamen nur dann zum Ein- 118 Nur zu P üfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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