Zeitbilder 5/6, Schulbuch

Die Not der Industriearbeiterschaft zwang die Regie- rung zu Maßnahmen: Man begrenzte die Arbeitszeit auf ein Höchstmaß von elf Stunden und schränkte die Kinder- und Frauenarbeit ein. Neu eingerichtete Ge- werbeinspektorate sollten die Einhaltung der gesetz- lichen Vorschriften überwachen. 1887/88 wurde eine obligatorische Unfall- und Krankenversicherung einge- führt. Besonders schlecht ging es aber weiterhin den Ar- beiterinnen und Arbeitern in den Ziegelfabriken vor den Toren Wiens. Die Bürger ignorierten die miserable Lage dieser Menschen. Der Arzt Victor Adler schlich sich jedoch als Arbeiter in die Ziegelwerke der Wienerberger Gesell- schaft ein. Seine Eindrücke veröffentlichte er unter dem Ti- tel „Sind Ziegelarbeiter auch Menschen?“ in der sozialde- mokratischen Zeitung „Gleichheit“ vom 1. Dezember 1888: Q Aber wenn dieser elende Hungerlohn auch nur wirklich ausbezahlt werden würde! Diese armen Teufel sehen aber monatelang kein „gutes Geld“, der dort übliche Ausdruck für das seltene Bargeld. Sondern zwei- bis dreimal täglich erfolgt die Auszah- lung in „Blech“, ohne dass auch nur gefragt wird, ob der Arbeiter es will oder braucht. Noch mehr, wer kein Blech nimmt, wird sofort entlassen. Dieses „Blech“ wird nur in den den einzelnen Partien zuge- wiesenen Kantinen angenommen, sodass der Arbei- ter nicht nur aus dem Werk nicht heraus kann, weil er kein „gutes Geld“ hat, sondern auch innerhalb des Werkes ist jeder einem besonderen Kantinenwirt als Bewucherungsobjekt zugewiesen. Die Preise in die- sen Kantinen sind bedeutend höher als in dem Orte Inzersdorf. [...] Der Partieführer selbst verkauft ihm Fußsocken, Fausthandschuhe, Holzschuhe, Schür- zen, ja selbst alte Hosen und Stiefel (welche freilich nur sehr wenige sich kaufen können), alles um min- destens ein Drittel teurer als der Krämer im Orte. [...] Die Partieführer würden aber ihre Sklaven nicht ganz in der Hand haben, wenn diese auswärts schla- fen gingen. Darum müssen alle Arbeiter im Werke schlafen. Für die Ziegelschlager gibt es elende „Ar- beiterhäuser“. In jedem einzelnen Raum, so genann- tem „Zimmer“ dieser Hütten, schlafen je drei, vier bis zehn Familien, Männer, Weiber, Kinder, alle durcheinander, untereinander, übereinander. Für diese Schlafhöhlen scheint die Gesellschaft sich noch „Wohnungsmiete“ zahlen zu lassen [...]. Da liegen dann in einem einzigen Raum 40, 50 bis 70 Personen. Holzpritschen, elendes altes Stroh, dar- auf liegen sie Körper an Körper geschlichtet. [...] Alte Fetzen bilden die Unterlage, ihre schmutzigen Klei- der dienen zum Zudecken. Manche ziehen ihr einzi- ges Hemd aus, um es zu schonen und liegen nackt da. Dass Wanzen und Läuse die steten Bettbegleiter sind, ist natürlich. Vom Waschen, vom Reinigen der Kleider kann ja keine Rede sein. Aber noch mehr. In einem dieser Schlafsäle, wo 50 Menschen schlafen, liegt in einer Ecke ein Ehepaar. Die Frau hat vor zwei Wochen in demselben Raum, in Gegenwart der 50 halbnackten, schmutzigen Män- ner, in diesem stinkenden Dunst entbunden! (Adler, Sind Ziegelarbeiter auch Menschen? In: Gleichheit, 1. Dez. 1888) Ziegelarbeiter als Handschläger 2,45 Kronen Ziegelarbeiter in der maschinellen Produktion 2,62 Kronen Durchschnittlicher Facharbeiterlohn 4,00 Kronen Arbeiter mit Spitzenverdienst (z. B. Baupolier) 7,50 Kronen Hilfsarbeiterin 1,20 Kronen 1 kg Brot 0,30 Kronen 1 l Milch 0,29 Kronen 1 kg Kartoffeln 0,10 Kronen 1 kg Rind eisch 1,80 Kronen 1 kg Zucker 0,90 Kronen 1 kg Mehl 0,20 Kronen 1 Paar Schuhe 10,00 Kronen Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung pro Monat 30,00 Kronen (Löhne pro Tag; die Preise waren je nach Einkaufsgegend sehr unterschiedlich) Löhne und Preise (um 1911) Stelle dir eine durchschnittliche Familie um 1900 vor sowie eine Alleinverdienerin bzw. einen Alleinverdiener. Berechne mit Hilfe der Daten in der Statistik, wie viel sich diese Menschen jeweils leisten konnten. Die Gewerbebehörden drückten beide Augen zu. Zu mächtig waren die „Ziegelbarone“ und die liberale Lob- by der Unternehmer. 1895 traten die Ziegelarbeiter in einen großen Streik, der erfolgreich war: Die Arbeiter organisierten sich und er- zwangen schließlich etwas bessere Lebensbedingungen.  Wohnungsnot in Wien. „Die Ärmsten von Wien: In der Josefigasse in Hernals findet eine behördliche Commission ein Massenquartier […].“ (Ausschnitt; Das interessante Blatt, 1. 8. 1892) Fragen und Arbeitsaufträge 1. Nenne die Entwicklungen, welche die Industrialisierung Österreichs im 19. Jh. ermöglichten bzw. beschleunigten. 2. Erkläre, wie sich die „Soziale Frage“ in Österreich auswirkte (Lebensverhältnisse, Wohnungssituation, Sozialgesetze…). Fasse die Arten der Ausbeutung zusammen. Erkläre, wes- halb es zu diesen menschenunwürdigen Zuständen kom- men konnte. Wer hatte ein Interesse am Totschweigen dieser Situation? Auch Frauen und Kinder lebten in der Fabrik. Beschreibe, welche Stellung sie wohl einnahmen. 285 Österreich von der Römerzeit bis zum Ende der Monarchie Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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