Zeitbilder 5/6, Schulbuch
15. Kaiser Franz Joseph I. Die Inhalte in diesem Abschnitt dienen dazu, Historische Sach- kompetenz zu entwickeln. Das heißt, es sollen Darstellungen der Vergangenheit sowie historische Quellen mit vorhandenem Sachwissen verbunden werden. Sachkompetent wird man dann, wenn das erworbene Wissen eingeordnet, mit anderem Wissen verglichen und bei historischen Aufgabenstellungen an- gewendet werden kann. Dabei ist die Wahrnehmung wichtig, dass sich die Vergangenheit nie vollständig rekonstruieren lässt. Geschichte ist daher eine Konstruktion, sie ist bruchstückhaft und nie ganz objektiv, weil sie von Menschen „gemacht“ wurde. Umso wichtiger ist die Ausbildung der Fähigkeit, die Konstrukti- vität von Geschichte zu erkennen und Geschichtsdarstellungen zu dekonstruieren. M1 Im gesamten Habsburgerreich hing das Porträt Kaiser Franz Josephs in Botschaften, Ministerien, Ämtern, Schulen, Rathäusern und in allen öffentlichen Institutionen: [Franz Joseph] glaubte an das Gottesgnaden- tum, an seine Auserwähltheit, und verfolgte ei- nen absolutistischen Herrschaftsanspruch. Entspre- chend seiner soldatischen Erziehung sowie seinem Vertrauen auf das Heer als eine der Hauptstützen des Thrones dominieren zahlenmäßig Bildnisse Franz Josephs in Uniform. Seine Porträts dienten über 60 Jahre hinweg dem gleichen Zweck: der Versicherung der Allgegenwärtigkeit und Beständigkeit des Mo- narchen als Garant für den ewigen Fortbestand der Monarchie. Nur sein Aussehen änderte sich, dem Al- ter gemäß – der Bart wurde weiß, das Haar wich zu- rück [...]. Ein spezielles Element in der Ikonographie [d. i. Deutung der Bildsprache] des Kaisers Franz Jo- seph ist die Darstellung seiner Person in der Natur: vor majestätischer Bergkulisse, am See, im Wald und immer wieder als Jäger. Die Jagdtracht wurde so sa- lonfähig gemacht und der Herrscher als volksnaher Mensch gezeichnet. (Friehs, Die Habsburger in Bild und Ton. Das Bildnis des Franz Joseph. In: Die Welt der Habsburger, online 2010) M1 Porträt von Franz Joseph in Uniform (1873) (Gemälde von Franz von Lenbach (1836–1904), Kunsthistorisches Museum, Wien) 2 Franz Joseph I. in oberöster- reichischer Tracht in der Umge- bung von Ischl. (Kolorierte Fotoreproduk- tion nach einer Lithographie von Josef Kriehuber. Albumin-Ab- zug, koloriert um 1858) M1 Aus einem Artikel der Tageszeitung „Die Presse“ über Franz Joseph I., anlässlich der Ausstellung „Der ewige Kaiser“ zum 100. Todesjahr von Franz Joseph I.: [...] Franz Joseph also als letzter sklerotischer [= verhärtet, A. d. A.] Vertreter seines Geschlechts, der mit gichtiger Faust die nationalen Bestrebungen zu erdrosseln sucht? Gemach. Neuere historische For- schungen zeichnen Franz Josephs Monarchie nicht mehr in so düsteren Farben. Als positiv sehen sie den wirtschaftlichen und zivilisatorischen Fortschritt, die relative Gesetzestreue und die Sicherheit, die der habsburgische Staat in Zentraleuropa gewährleistete, ganz zu schweigen von der kulturellen Blüte des Fin de siècle. [...] War Franz Joseph überhaupt ein we- sentlicher Akteur, war nicht seine Macht durch Kons- titution und mächtige Bürokratie reduziert, erst recht, wenn sie mit den Zwängen der europäischen Mäch- tekonstellation und den internen sozialen und natio- nalen Ambitionen kollidierte? Schon, doch wo er ent- scheiden konnte, war er durch seine Erziehung und seinen konservativen Charakter, vor allem aber durch sein dynastisches Denken klar beschränkt. Und sei- ne freien Entscheidungen waren oft jene, die sich als verhängnisvoll erweisen sollten. So war er als Mensch geprägt von der Erfahrung, dass sein Tun oft auf das Gegenteil dessen hinauslief, was er erwartet oder erhofft hatte. Es blieb ihm nur die Hoffnung, durch Disziplin, Aktenkenntnis und Abwehr aller radikalen Veränderungsversuche die Situation zu retten. Die Unglücksfälle in seiner Familie entrückten ihn in eine Sphäre der Isolation und Vereinsamung. Die Zeitgenossen trennten zunehmend zwischen ihm und dem Staat. So entstand das Klischeebild des al- ten, einsamen Kaisers, dem nichts erspart bleibt, es hat bis heute nachhaltige Wirkung. (Günther Haller, War er ein unheilbarer Reaktionär oder ein Meister der Balance? Die Presse, 6. 3. 2016, S. 46/47) M3 4 282 Kompetenztraining Historische Sachkompetenz Geschichte als Konstruktion der Vergangenheit wahrnehmen (Konstruktivität) Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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