Zeitbilder 5/6, Schulbuch
Erster Mai 1890 in Wien. 1890 wurde der Erste Mai zum ersten Mal auf Grund internationaler Beschlüsse als „Weltfeiertag der Arbeit“ er- klärt. Illustration des Demonstrationszugs der Arbeiterschaft über die Aspernbrücke in den Prater. Die männlichen Teilnehmer sind sehr bür- gerlich gekleidet dargestellt. (Extrablatt, 4. 5. 1890) Für die seit 1890 durchgeführten „Mai-Spaziergänge“ (offizielle Maifeiern mit Umzügen waren verboten) und für große Wahlrechtsdemonstrationen gelang es, viele tausende Menschen auf die Straße zu bringen. Nach der Wahlrechtsreform von 1907 stellten die Abgeordneten der SDAPÖ mit 87 von 516 Abgeordneten die zweit- stärkste Fraktion im Reichsrat. Die Sozialdemokratische Partei Österreichs verstand sich als internationale Partei. Im Zeitalter des Nationalismus war jedoch auch für sie die zentrale Problematik der Mo- narchie, das Nationalitätenproblem, wichtig. Die sozi- aldemokratischen Politiker Otto Bauer und Karl Renner setzten sich in mehreren Schriften für nationale Selbstbe- stimmung und Minderheitenschutz ein. Die Existenz des Vielvölkerstaates stellten sie aber nie in Frage. Dennoch konnte die Einheit der Sozialdemokratie in der Donaumonarchie nicht erhalten werden. Es bilde- ten sich nationale sozialdemokratische Parteien und die Arbeiterbewegung fiel in den letzten Vorkriegsjahren in eine tiefe Krise. Die Christlichsoziale Partei Ebenfalls am Ende der achtziger Jahre des 19. Jh. schlossen sich christlichsoziale Gruppierungen zusam- men. Die Ursprünge der Christlichsozialen sind in Wien zu suchen. Dort stützte sich ihr Führer, Karl Lueger, zu- nächst vor allem auf die Handwerker und Kleingewer- betreibenden. Schon in den neunziger Jahren konnte die Christlichso- ziale Partei neben den Kleinbürgern auch die niedere Geistlichkeit, das Bauerntum und Teile der Arbeiter- schaft zu ihren Anhängern zählen. Die geistigen Grundlagen für die christlichsoziale Bewe- gung in Österreich schuf Karl Freiherr von Vogelsang. Seine Vorstellungen zur Lösung der „Sozialen Frage“ im Sinne der christlichen Soziallehre fasst der österreichi- sche Historiker Hanns Leo Mikoletzky zusammen: L Wirtschaft und Gesellschaft müssen so gestaltet sein, dass der Mensch die ihm von Gott gestellte Aufgabe erfüllen kann. [...] Es ist Unrecht, dass die Kapitalisten nach Gutdünken über die Produktions- mittel verfügen und die Konsumenten durch hohe Preise, die Arbeiter aber durch niedere Löhne schä- digen. [...] Die parlamentarische Verfassung, die die Liberalen geschaffen haben, erlaubt den Kapitalis- ten, die Bevölkerung zu tyrannisieren, und erleichtert zugleich den Demagogen, die Arbeiterschaft irre zuführen. Die Beziehung des Arbeiters zum Unternehmer ist entweder als Gesellschaftsverhältnis aufzufassen, dann steht dem Arbeiter Anspruch auf Gewinnbe- teiligung zu, oder es ist ein Lohnverhältnis, dann muss der Arbeiter Entschädigung für die Zeit sei- ner beruflichen Ausbildung erhalten und einen Be- trag, den er sich zurücklegen kann, um im Alter vor Not geschützt zu sein. Da die Hauptgeschädigten des Zinsgeschäftes die Bauern sind, soll eine neue Grundentlastung, das heißt eine großzügige Ent- schuldung der Bauernschaft, durchgeführt werden. [...] Das Parlament ist durch eine berufsgenossen- schaftliche, ständische Vertretungskörperschaft zu ersetzen. (Mikoletzky, Österreich. Das entscheidende 19. Jahrhundert, 1972, S. 443 f.) Arbeite heraus, wogegen sich Vogelsang vor allem wendet, welche Missstände er aufzählt und welche Lösungsmög- lichkeiten er anbietet. Vergleiche die Aussagen Vogelsangs mit den beiden anderen Parteiprogrammen in diesem Kapitel. Offiziell gegründet wurde die Partei erst 1893. Mit ihr brach Lueger die liberale Mehrheit im Wiener Gemein- derat. Er nutzte dabei die Proteststimmung der unteren Mittelschicht. Gegenüber der jüdischen Bevölkerungs- minderheit gab es viele Vorurteile, die Lueger zu seinen Gunsten nutzte. Die Geschichte der Jüdinnen und Ju- den auf dem Gebiet des heutigen Österreich ist geprägt von Phasen der Verfolgung und Toleranz sowie vom Kampf um Gleichberechtigung (vgl. das Toleranzpatent Josephs II., S. 266 f.). In der Monarchie und in der Ersten Republik nahmen trotz aller politischen Widrigkeiten Jüdinnen und Juden eine bedeutende Stellung ein und hatten großen Anteil am wirtschaftlichen und kulturel- len Aufschwung. Viele österreichische Nobelpreisträger, bekannte Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Musike- rinnen und Musiker, Theaterleute sowie Ärztinnen und Ärzte stammten aus jüdischen Familien. Es war Teil der antisemitischen Propaganda, den Neid auf diese erfolg- 276 Nur zu Prüfzwecken – Eige tum des Verlags öbv
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