Zeitbilder 5/6, Schulbuch
8. Toleranz Das Toleranzpatent von Kaiser Joseph II. Gegenwärtig gehen wir davon aus, dass Toleranz (lat. tolerantia: Ertragen, Erdulden, Geduld) in religiösen Fragen für ein friedli- ches und achtungsvolles Zusammenleben der Menschen not- wendig und selbstverständlich ist. In Österreich legte dazu Kai- ser Joseph II. einen wichtigen Grundstein. Der Augsburger Religionsfriede (1555) gab den Landesfürsten das Recht, die Religion ihrer Untertanen zu bestimmen. Sie konnten Andersgläubige zur Auswanderung zwingen. Von die- sem Recht machten die katholischen habsburgischen Landes- fürsten immer wieder Gebrauch. Demnach mussten Protestan- ten vielfach die österreichischen Länder verlassen. Unter Maria Theresia wurden viele Protestanten in Gegenden verschickt, die im Interesse der habsburgischen Regierung bevölkert werden sollten (z. B. nach Siebenbürgen). Trotzdem hielt sich der Geheimprotestantismus in den österreichischen Herrschaftsgebieten, v. a. in abgelegenen Gegenden. Gegen die Praxis der Zwangsumsiedlung stellte sich Kaiser Joseph II. als Mitregent. Denn dadurch gingen dem Staat wichtige und gut ausgebildete Arbeitskräfte verloren. Außerdem protestierte er gegen die Zwangsmissionierung der Protestanten. Damit vertrat der Kaiser eines der zentralen Anliegen der Aufklärung nach Re- ligions- und Gewissensfreiheit. Allerdings hatte bereits 1681 Kaiser Leopold I. den Protestanten in Ungarn eine eingeschränkte Glaubensfreiheit zugestanden. Sie erhielten außerdem in jedem Verwaltungsbezirk (Komitat) mindestens einen Bauplatz für einen Kirchenbau. Der Kaiser wollte damit die Ungarn für den Kampf gegen das Osmanische Reich gewinnen. Schon Philosophen des 17. und 18. Jh. wie z. B. John Locke (1632–1704) argumentierten, dass die staatliche Obrigkeit den Menschen den Glauben nicht vorschreiben dürfe. Locke ging in seiner Staatslehre nämlich von Folgendem aus: Beim Zusammenschluss der Menschen zu einem Staat darf dieser nur so viel Macht haben, wie zum Schutz von Leben und Ei- gentum der Einzelnen notwendig ist. Erst wenn die religiösen Ansichten zur Gefährdung der Menschen oder des Staates führen, dürfen sie nach seiner Meinung nicht mehr toleriert werden. In seinem 1689 erschienenen Toleranzbrief (A Letter concerning Toleration) schrieb Locke: Q [...] the care of each man’s soul and of the things of heaven, which neither does belong to the com- monwealth, nor can be subjected to it. [It is] left en tirely to the every man’s self. (Zit. nach: Eucher, Locke. In: Maier, Rausch, Denzer (Hg.): Klassiker des Politischen Denkens II, 1987, S. 24) Im Sinne dieser Auffassung verfügte Kaiser Joseph II. im Jahr 1781 das „Toleranzpatent“. Er legte darin in sieben Artikeln die Grundsätze für die Tolerierung aller christlichen Konfessionen im habsburgischen Herrschaftsbereich fest: Q Liebe Getreue! Ueberzeuget einerseits von der Schädlichkeit alles Gewissenszwanges und an- dererseits von dem grossen Nutzen, der für die Re- ligion und den Staat aus einer wahren christlichen Toleranz entspringet, haben Wir Uns bewogen ge- funden, den Augspurgischen und Helvetischen Re- ligionsverwandten, dann den nicht unirten Griechen (= Orthodoxe) ein ihrer Religion gemässes Privat- Exercitium (= private Ausübung) allenthalben zu ge- statten. [...] Der katholischen Religion allein soll der Vorzug des öffentlichen Religions-Exercitii verblei- ben, den beyden protestantischen Religionen aber, sowie der schon bestehenden nicht unirten Griechi- schen [...], das Privat-Exercitium auszuüben erlaubet sein. Insbesondere aber bewilligen Wir: 1. Wo 100 Familien nichtkatholischer Untertanen wohnen, dürfen sie ein eigenes Bethaus und eine Schule errichten. Dies gilt auch dann, wenn ein Teil von ihnen nicht im Ort des Bethauses, sondern in der Entfernung einiger Stunden vom Ort wohnt. [...] Hinsichtlich des Ansehens [= Aussehen, Anm. d. A.] eines Bethauses wird ausdrücklich befohlen, dass es keine Geläut, keine Glocken, Türme und keinen öf- fentlichen Eingang von der Straße, der auf eine Kir- che hinweist, haben darf. Die Verwaltung ihrer Sak- ramente, die Ausübung des Gottesdienstes und öf- fentliche Begräbnisse unter Begleitung eines Geistli- chen werden gestattet. 2. Es bleibt ihnen unbenommen, ihre eigenen Schul- meister zu bestellen, welche von den Gemeinden zu erhalten sind. Lehrmethoden und Disziplin werden von der landeseigenen Schuldirektion kontrolliert. [...] 6. Hinsichtlich der Kinder bei konfessionell gemisch- ten Ehen wird verfügt: Bei einem katholischen Vater sind alle Kinder in der katholischen Religion zu er- ziehen. Bei einem protestantischen Vater und einer katholischen Mutter hat die Religion dem Geschlecht zu folgen. 7. Wo Protestanten und Orthodoxe aufgrund ihrer Religion bisher weder Besitz noch Bürgerrechte, akademische Würden oder Meisterrechte erwerben konnten, dürfen sie diese nun anstandslos auf dem Weg der Dispens [= aus kaiserlicher Gnade und Güte, Anm. d. A.] erhalten. (Barton, Das Toleranzpatent von 1781. In: Ders. (Hg.): Im Zeichen der Toleranz, 1981, S. 152 ff. [gekürzte Übertr. d. 2. Teiles d. A.]) 266 Politische Bildung Nur zu Prüfzw cken – Eigentum des Verlags öbv
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