Zeitbilder 5/6, Schulbuch
18. Der Nationalismus – Grundlage für neue Nationalstaaten Die Materialien in diesem Kapitel dienen zunächst der Weiter- entwicklung der Politischen Sachkompetenz. Am Beispiel von Nation und Nationalismus sollst du die unterschiedliche Ver- wendung dieser Begriffe und Konzepte in Alltags- und Fachspra- che erkennen. Ferner sind deren Herkunft und Bedeutungswan- del zu beachten. Darüber hinaus dienen ausgewählte Textquellen auch der Wei- terentwicklung der Historischen Methodenkompetenz: Die in einer Originalquelle und in einer darauf bezogenen Darstellung zum Ausdruck gebrachten Vorstellungen über das Konzept von „Nation“ können hinsichtlich der Aussagen dazu miteinander verglichen werden. M1 Der französische Gelehrte Ernest J. Renan (1823– 1892) hielt 1882 eine berühmte Vorlesung an der Sorbonne mit dem Titel „Was ist eine Nation?“ Eine Nation ist eine Seele, ein geistiges Prinzip. Zwei Dinge, die in Wahrheit nur eins sind, ma- chen diese Seele, dieses geistige Prinzip aus. Eines davon gehört der Vergangenheit an, das andere ist Gegenwart. Das eine ist der gemeinsame Besitz ei- nes reichen Erbes an Erinnerungen, das andere ist das gegenwärtige Einvernehmen, der Wunsch, zu- sammenzuleben, der Wille, das Erbe hochzuhalten, welches man ungeteilt empfangen hat. [...] Eine Nati- on ist also eine große Solidargemeinschaft, getragen von dem Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man noch zu bringen gewillt ist. Sie setzt eine Vergangenheit voraus, aber trotzdem fasst sie sich in der Gegenwart in einem greifbaren Faktum zusammen: der Übereinkunft, dem deutlich ausgesprochenen Wunsch, das gemeinsame Leben fortzusetzen. Das Dasein einer Nation ist [...] ein täg- liches Plebiszit. [...] Die Nationen sind nicht etwas Ewiges. Sie haben einmal angefangen, sie werden enden. Die europäische Konföderation wird sie wahr- scheinlich ablösen. Aber das ist nicht das Gesetz des Jahrhunderts, in dem wir leben. [...] Das Vergessen spielt bei der Erschaffung einer Nation eine wesent- liche Rolle. Die Vereinigung [z. B. eines Landes; er- gänzt d. d. A.] vollzieht sich immer auf brutale Weise. Die Vereinigung z. B. Nord- und Südfrankreichs ist das Ergebnis von fast einem Jahrhundert Ausrottung und Terror. [...] Es macht jedoch das Wesen einer Na- tion aus, dass alle Individuen etwas gemeinsam ha- ben, auch, dass sie viele Dinge vergessen haben. (Zit. nach: Weidinger (Hg.): Nation – Nationalismus – Identität. Bundes zentrale für politische Bildung. Bonn 2002, S. 15) M2 Der deutsche Historiker Dieter Langewiesche schreibt in Bezug auf das Konzept von E. J. Renan: Wer über Nation spricht, hat Mühe, sich aus dem Bann der „großen Solidargemeinschaft“ geistig zu lösen. So hat Ernest Renan umschrieben, was eine Nation ausmacht. Seine Metapher – die Nation als „ein tägliches Plebiszit“ – ist als demokratisches Lip- penbekenntnis zwar immer wieder nachgesprochen worden, doch dabei wird leicht übersehen, dass er die Nation als ein Geschichtsgehäuse konstruiert, aus dem der einzelne nicht austreten kann. „Die Nationen sind nichts Ewiges“, hielt er 1882 seinen nationsgläubigen Zeitgenossen entgegen, doch zu- gleich nannte er die Nation zusammengefügt durch „ein gemeinsames Erbe von Ruhm und Reue“ und durch ein verbindendes Zukunftsprogramm. Renan, der große Theoretiker der westeuropäischen Idee der Staatsnation, verankert die Nation als „geisti- ges Prinzip“ in der Geschichte, vor allem in der ge- meinsamen Trauer bei der Erinnerung an das Leid der Vergangenheit, doch ihre Zukunft sieht er nur gesichert, wenn diejenigen, die ihr angehören, sich immer wieder zu ihr bekennen. Renan warb für die Nation als politische Willensgemeinschaft ohne Ewigkeitsanspruch und plädierte für eine europäi- sche Konföderation. Es geht hier nicht darum, Nation und Nationalismus als überholte Werteordnungen zu entlarven. Es geht vielmehr darum zu erhellen, wie sie geworden sind, um erkennen zu können, wie tief die nationalen Ordnungen unserer Gegenwart in der Geschichte verankert sind und was neu ist. Der My- thos des Uralten hat stets die Vorstellung von Nati- on beglaubigt. Der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen, das Renan zum Fundament einer jeden Nation rechnet, erweist sich jedoch oft als kollektiver Glaube, der historisch kostümiert zur unangreifbaren Tatsache gerinnt. (Langewiesche: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa. München: 2000, S. 9 ff.) M3 Der Historiker Christoph Nonn erläutert den vieldeutigen Begriff von „Nation“: Was aber ist eigentlich eine Nation? Wodurch entsteht bei einer Gruppe, sie mag aus zwei Mil- lionen oder hundert Millionen Menschen bestehen, das Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit? Die meisten Menschen würden als Ursache dafür wohl das Vorhandensein einer gemeinsamen Sprache nen- nen. Franzosen wären demnach Franzosen, weil sie Französisch sprechen. Engländer wären Engländer, weil sie Englisch reden. Und die deutsche Nation würde sich dadurch definieren, dass ihre Mitglieder Deutsch sprechen. Hier taucht allerdings schon ein erstes Problem die- ses Definitionsversuches über Sprachgemeinschaften auf. Denn wenn die deutsche Nation sich über die deutsche Sprache definiert, was ist dann mit Österrei- chern und deutschsprachigen Schweizern? In beiden Gruppen gibt es heute wohl kaum jemand, der sich als Deutscher versteht. [...] Nationalgefühl basiert offenbar nicht allein auf der Zugehörigkeit zu einer Sprachgemeinschaft. Die Bewohner der Schweiz se- hen sich auch als eine Nation, obwohl sie vier ver- schiedenen Sprachgemeinschaften angehören: der deutschen, der italienischen, der rätoromanischen und der französischen [...]. [In diesem Fall] orientiert 234 Kompetenztraining Politische Sachkompetenz Unterschiedliche Verwendung von Begriffen/Konzepten in Alltags- und (wissenschaftlicher) Fachsprache erkennen sowie deren Herkunfts- und Bedeutungswandel beachten Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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