Zeitbilder 5/6, Schulbuch

9. Die „Industrielle Revolution“ 9.1 Die „Erste Industrielle Revolution“ Massenfabrikation in der Textilindustrie 1760 wurden in England 2,5 Millionen Pfund Baum- wolle verarbeitet, 1840 waren es 366 Millionen Pfund. Wie kam es zu dieser Steigerung um das 146-Fache? Im 18. Jh. waren für viele Leute zwei Kleidergarnitu- ren (eine für Werktag, eine für Sonntag) ein Luxus. Das bot den Textilproduzenten die Möglichkeit zur Absatz- steigerung, wenn ihre Produkte preiswert waren. Bis zur Mitte des 18. Jh. wurde fast die gesamte aus den Kolonien importierte Baumwolle in Heimarbeit verar- beitet. Das bedeutete Arbeit für die ganze Familie: Die Kinder waren mit dem Reinigen und Auskämmen der Baumwolle beschäftigt, die Frauen spannen das Garn, die Männer webten die Stoffe. Ein Weber aber konnte mehr Garn verarbeiten, als acht Spinnerinnen in dersel- ben Zeit händisch produzierten. Deshalb wurden sogar Preise für Erfindungen ausgesetzt, welche die Garnpro- duktion und auch deren Qualität erhöhen konnten. Die erste durchschlagende Verbesserung gelang James Hargreaves (1764): Er entwickelte eine Spinnmaschi- ne, nach seiner Tochter „Spinning Jenny“ genannt (s. S. 247). Sie hatte anfangs acht, später sogar achtzig und mehr Spindeln nebeneinander, die Garn erzeugen konnten. Kurze Zeit später lief in einigen Manufakturen bereits eine mit Wasserkraft betriebene Spinnmaschine. Als schließlich die Dampfmaschine das Wasser als An- triebskraft ablöste, waren gigantische Produktionsstei- gerungen die Folge. Mit den immer wieder verbesserten Maschinen konnte ein Spinner zu Beginn des 19. Jh. gleich viel produzieren wie 200 Spinner vor der Erfin- dung der „Jenny“. Etwa 100 000 Menschen arbeiteten Anfang des 19. Jh. in diesen neuen Spinnfabriken. Diese Massenerzeugung senkte auch den Preis erheblich. 1 Pfund Garn 1788 1800 1830 Kosten: Rohstoff und Arbeitslohn 12 Shilling 3 Shilling 1 Shilling Verkaufspreis 35 Shilling 9 Shilling 3 Shilling Die billig gewordenen Baumwolltextilien ließen den Absatz nicht nur in Großbritannien in die Höhe schnel- len: 1830 machten Baumwollerzeugnisse mehr als die Hälfte des britischen Exports aus. Lange blieb die Weberei hinter der Modernisierung in der Spinnerei zurück. Der mechanische Webstuhl konn- te sich erst 50 Jahre nach seiner Erfindung durch den Londoner Pfarrer Edmund Cartwright (1784) endgültig durchsetzen. Denn die etwa 250 000 Handweber leis- teten erbitterten Widerstand: Sie brannten sogar ganze Fabriken nieder, um ihren Berufsstand gegen die un- aufhaltsam fortschreitende Maschinenweberei in den Fabriken zu verteidigen. Der Widerstand gegen die „Textilbarone“ und „Spinnerkönige“ blieb jedoch er- folglos, denn die Idee einer unbeschränkt freien Wirt- schaft ließ sich nicht aufhalten.  Anonym, Joseph Marie Jacquard (1752–1834), Erfinder der Jacquard- maschine. Farbdruck, aus: Le Petit Journal, Paris, um 1900. Mit dem Webstuhl des Franzosen Jaquard gelang es 1808 erstmals, auch Muster mechanisch in das Textil einzuweben. Die Dampfmaschine – Motor der „Ersten Industriellen Revolution“ Bis zum Beginn der Industrialisierung waren die Men- schen beim Produzieren von Gütern auf ihre eigene Kraft und die von Wasser, Wind und Tieren angewiesen. Doch schon in vorindustrieller Zeit beschäftigten sichMenschen mit der Entwicklung von Kraftmaschinen. Es fehlten ih- nen aber meist die technischen Möglichkeiten zur Umset- zung in der Praxis. Ihre Erfindungen entsprangen in erster Linie praktischen Bedürfnissen. Sie wurden kaum wissen- schaftlich-experimentell erprobt und weiterentwickelt. Erst James Watt, ein Mechaniker an der Universität Glas- gow, verband Wissenschaft und Praxis. In jahrelangen Versuchsreihen testete er die Eigenschaften des Damp- fes und die Verwendbarkeit verschiedener Metalle. Doch zwischen der Erfindung seiner neuen Dampfmaschine im Modell (1765) und einer kaufmännisch verwertbaren, wesentlich leistungsfähigeren Arbeits- und Kraftmaschi- ne lag mehr als ein Jahrzehnt. Watt wollte, mittlerweile hoch verschuldet, schon aufgeben. Doch schließlich fand er mit dem Fabrikanten Matthew Boulton einen Finan- cier: Er war vom Erfolg der Watt’schen Dampfmaschine überzeugt und investierte in die neue Erfindung. Sie wurde auch innerhalb weniger Jahre zur wichtigsten Ar- beitsmaschine in der Schwerindustrie. Die Dampfmaschi- ne wurde zum Antrieb von Pumpen, Hämmern, Gebläsen und Walzen verwendet. 210 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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