Zeitbilder 5, Schulbuch

Eine spezielle Art von schriftlicher Quelle ist eine Urkunde. Am Beispiel der Georgenberger Handfeste kannst du deine Metho- denkompetenz trainieren. Die Georgenberger Handfeste Der steirische Herzog Ottokar IV. (= Otakar) litt an einer unheilba- ren Krankheit. Da er keinen Nachfolger hatte, war die Frage: Wer wird das Herzogtum Steiermark erben? Darüber beriet er sich mit seinen Ministerialen (= adelige Dienstmannen). Danach be- schloss er, seinen Verwandten, den Babenberger Herzog Leopo- ld V. von Österreich, zu seinem Nachfolger einzusetzen. Er ver- handelte zwei Jahre lang mit dem Babenberger über die Bedin- gungen der Erbschaft. Auch musste die Erlaubnis des Kaisers eingeholt werden. Kirchen und Klöster, darunter das „Hausklos- ter“ Garsten in Oberösterreich, bekamen großzügige Geschenke für ihre Zustimmung. Die eigenen Anhänger, Dienstmannen und Grafen, mussten ebenfalls für den Plan gewonnen werden. Ottokar stammte aus dem Adelsgeschlecht der Traungauer. Die- se hatten seit 1050 ihr Herrschaftsgebiet zu einem geschlosse- nen Territorium ausgebaut. Nach ihrer Burg Steyr nannten sie es „Steiermark“. Ottokar IV. wurde 1164, im Todesjahr seines Va- ters, geboren. Als die Steiermark 1180 zum Herzogtum erhoben wurde, war er gerade volljährig geworden. Das Gebiet des Her- zogtums Steiermark war viel größer als das heutige Bundesland: Es reichte bis ins heutige Slowenien (die Untersteiermark), nach Niederösterreich (die heutigen Bezirke Wiener Neustadt und Neunkirchen) und nach Oberösterreich (der Traungau, die Ge- gend um Wels und Steyr). Am 17. August 1186 war es soweit: Auf dem Georgenberg in Enns (heute Ennsegg), an der Grenze zwischen den beiden Herzogtü- mern Österreich und Steiermark, waren zwei Urkunden vorberei- tet. Die größere der beiden wurde Georgenberger Handfeste (Handfeste = Urkunde) genannt. Sie beinhaltet die Abmachungen des letzten Traungauer Herzogs mit seinem Erben, dem Baben- berger Leopold V. Die kleine Georgenberger Handfeste war offen- bar als Benachrichtigung an die Kirchen und Klöster abgefasst worden. Darin werden die Regelung der Nachfolge und die Rech- te der Ministerialen und Ritter mitgeteilt. Der Herzog erklärt wei- ters, dass er alles, was er und sein Vater den Klöstern vorenthal- ten haben, zurückgeben werde. In der Georgenberger Handfeste wurden auch erstmals die Rech- te des Stadtbürgertums, Fragen der Gerichtsbarkeit und das Erb­ recht schriftlich festgehalten. Manche Historikerinnen und Histo- riker sehen daher in der Georgenberger Handfeste einen ersten Ansatz für ein „Bürgerliches Gesetzbuch“. Sechs Jahre nach der Ausstellung der Urkunde, 1192, starb Ot- tokar IV. als letzter Traungauer. Wie in der Georgenberger Hand- feste vorgesehen, wurde kurz darauf Herzog Leopold V. von Ös- terreich vom Kaiser mit dem Herzogtum Steiermark belehnt. Die Babenberger waren damit auch zu Landesfürsten der Steiermark geworden. Die Georgenberger Handfeste ist eines der wichtigsten Doku- mente nicht nur der steirischen, sondern auch der älteren öster- reichischen Geschichte: Sie bildete nämlich die rechtliche Grund- lage für die Vereinigung der Länder Österreich und Steiermark. Damit wurde der erste Schritt zur Herausbildung des Länderkom- plexes Österreich gesetzt. Der nächste erfolgte im Spätmittelalter unter den frühen Habsburgern (vgl. S. 168 ff.). Eine wichtige Grundlage des heutigen Österreich ist damit geschaffen worden. 5. Die Georgenberger Handfeste (Schriftliche Quellen/Urkunden) Aus der Georgenberger Handfeste von 1186: Im Namen der heiligen Dreifaltigkeit und unteilba- ren Einigkeit. Otakar, Herzog von Steier, allen Gläu- bigen in Ewigkeit […] weil Gott […] zuerst unseren Eltern, dann uns große Fülle an Menschen und Gü- tern zugeteilt hat, tragen wir nicht geringe Sorge, da wir keinen Erben haben, dem all das Unsere als Erbe zufallen sollte. Nachdem wir also mit den Besseren von den Unseren weisen Rat gepflogen, haben wir den edelsten, ge- strengsten und getreuesten Herzog Leopold von Ös- terreich, unseren Blutsverwandten, falls wir ohne Lei- beserben sterben sollten, zu unserem Nachfolger bestimmt. Da dessen Land dem unseren benachbart ist, könnten beide unter eines Friedens und Fürsten Gerechtigkeit leichter regiert werden. Da wir diesen uns sehr freundschaftlich gesinnt halten, so glauben wir sicher, dass er […] nichts Böses gegen uns und die Unseren unternehmen wird. Damit dennoch keiner seiner Nachfolger […] gegen unsere Ministerialen und Landleute frevelhaft oder grausam zu handeln wage, so haben wir beschlossen, die Rechte der Un- seren, ihrer Bitte entsprechend, schriftlich zusam- menzufassen und durch eine Handfeste zu sichern. (1) Daher setzen wir zuerst fest: Wenn dieser Herzog und sein Sohn Friedrich (…) uns überleben […] (2) Jener von seinen Enkeln (…) der das Herzogtum Österreich besitzen wird, der soll auch das Herzog- tum Steiermark regieren, was seine Brüder ihm in keiner Form bestreiten sollen […] (4) Jener Herzog soll auch die Patronate der Kirchen und die Vogteien der […] Klöster […] in eigener Hand behalten. (5) Eigengüter, Burgen, Land und Ministeriale soll er ganz besitzen […] (6) Wer immer von der Steiermark oder Österreich eine Ehe schließt, soll das Recht jenes Landes genie- ßen, in dem er wohnt. (7) Wenn ein Steirer ohne Testament stirbt, soll ihm nach Erbrecht der nächste Blutsverwandte nachfol- gen. […] (9) Wann immer Klage über Güterbesitz geführt wird, soll eine derartige Frage vor den Richtern nach dem ehrlichen Zeugnis bewährter und glaubwürdiger Zeugen ausgetragen werden. […] (19) Wer immer es sein möge, der nach uns die Herr- schergewalt haben wird, er soll hinsichtlich der Unse- ren, nämlich der Klosterleute, Ministerialien und Landleute, diese auf ihre Bitten niedergeschriebene Urkunde ehrlich einhalten. Sollte er jedoch unter Missachtung der Gerechtigkeit mild zu herrschen verschmähen, sondern wie ein Tyrann […] sich erhe- ben, sollen sie die Freiheit haben, den Kaiserhof an- zurufen […], um durch diese Handfeste […] ihr […] Recht zu fordern. Dieses ist geschehen im Jahr der Menschwerdung des Herrn eintausendeinhundertsechsundachtzig […] am Sonntag, dem siebzehnten August, […] auf dem Sankt Georgsberg beim Markt Enns […], wo zur Zeu- 166 Kompetenztraining  Historische Methodenkompetenz Schriftliche Quellen beschreiben, analysieren und interpretieren Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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