Zeitbilder 5, Schulbuch

Nach Rom pilgerten die Gläubigen, um die Gräber der Apostel Petrus und Paulus und die Wirkungsstätte christlicher Märtyrer aufzusuchen. Im Jahre 1300 rief Papst Bonifaz VIII. das erste „Heilige Jahr“ aus. Dies versprach den Pilgerinnen und Pilgern eine besonders große Gnade und einen speziellen Sündenablass. Im Hochmittelalter verstärkte sich die Verehrung von Heiligen. Man begann, ihre Gräber zu öffnen und Reste ihrer Körper und Gegenstän- de, die ein Heiliger benutzt hat, als Reliquien zu verehren. Wallfahrerin- nen und Wallfahrer besuchten die Gräber von Heiligen und die Stätten ihres Wirkens. Viele wurden auch angezogen von Erzählungen und Berichten über Wunderheilungen. Im 12. Jh. heißt es in einem Bericht über Maria Magdalena im franzö- sischen Vézelay: Q Aus Liebe zu dieser Heiligen vergibt der Herr den Sündern ihre Vergehen, den Blinden schenkt er das Augenlicht, den Stummen löst er die Zunge; Lahme werden aufgerichtet, Besessene vom Dämon befreit, vielen ande- ren werden hier unsagbare Wohl- taten zuteil. (BeckerHuberti, Mocek. Letzte Rettung oder „falscher Wahn“? Epoc. Spektrum der Wissen­ schaft. Pilgern im Mittelalter, 2010, S. 18) Beschreibe die Hoffnungen, die viele Gläubige laut dieser Quelle mit einer Pilgerreise verbanden. Der Bürger Philipp von Vigneulles pilgerte im Spätmittelalter von Metz nach Aachen, wo Karl d. Große als Heiliger verehrt wurde. Er berichtete: Q Um die Heiligtümer zu sehen, war eine so ungeheure Men- schenmenge nach Aachen gekom- men, dass solche, die nie da gewe- sen sind, es kaum glauben werden. Jeder suchte einen möglichst gu- ten Platz zu erlangen. Alle Häuser und die Kirche waren mit Men- schen überfüllt und hölzerne Ge- rüste an denselben angebaut […]. Für unser Geld ließ man uns in ei- nes dieser Häuser ein, von wo wir die Reliquien gut sehen konnten. (Herber, „Wirtschaftsfaktor Seelenheil“, Epoc. Spektrum der Wissenschaft. Pilgern im Mit­ telalter, 2010, S. 22) Weiters wird berichtet, dass die als „heilig“ angesehenen Reliquien schließlich im Freien gezeigt wer- den mussten, weil die Kirchen und Gebäude der Stadt zu klein waren. Besonders groß war der Menschen- andrang in den „Heiligen Jahren“, die in Aachen alle sieben Jahre be- gangen wurden: Die Stadt hatte 1461 etwa 10000 Einwohnerinnen und Einwohner, die Zahl der Pilge- rinnen und Pilger betrug 142000! Vor etwa 1000 Jahren entwickelte sich im Nordwesten Spaniens die Stadt Santiago de Compostela zu einem der wichtigsten Wallfahrtsor- te. Legenden berichteten nämlich, dass dort das Grab des Apostels Jakobus (spanisch „Santiago“) sei. Forscherinnen und Forscher be- zweifeln aber, dass der Apostel je- mals spanischen Boden betreten habe. Jahr für Jahr strömten Gläu- bige aus dem ganzen Abendland zur Kathedrale von Santiago. Al- fons VI., König von Kastilien, hatte sie auf den Resten einer älteren Kirche bauen lassen. Besonders stark war der Zustrom in den Heili- gen Jahren, wenn der Festtag des Heiligen Jakobus (25. Juli) auf ei- nen Sonntag fiel. Im Laufe des Mit- telalters entstand ein Wegenetz, das Pilgerinnen und Pilger aus ganz Europa nach Santiago führte. Im Spätmittelalter wanderten schät- zungsweise 500000 Gläubige auf dem Jakobsweg. Die Mehrzahl der Pilgerinnen und Pilger waren erwachsene und ge- sunde Männer. Die Zahl der Frauen wird aber auf mehr als 35% ge- schätzt. Auch Kinder, Kranke und Behinderte nahmen die mühevollen Wallfahrten auf sich. Wer besondere Buße tun wollte, ging nicht nur bar- fuß, sondern rutschte auf den Knien in Richtung Ziel, oft noch mit Lasten beladen, in heißer Kleidung schwit- zend oder nackt frierend.  Die französische Handschrift zeigt, wie ein Pilger überfallen wird. Alleinreisende wurden häufig Opfer brutaler Überfälle. (Aus der Handschrift „Le Pélerinage de la vie humaine“, 1393, von Guillaume de Deguilleville, Bibliothèque Nationale, Paris) Querschnitt 130 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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