Zeitbilder 5, Schulbuch

Q Weil sie voller Hoffnung oder aus Armut meist in ihren Häusern und inmitten ihrer Nachbarschaft blieben, erkrankten sie jeden Tag zu Tausenden, und da ihnen keinerlei Pflege oder Hilfe zukam, starben sie fast alle rettungslos. Tag und Nacht verendeten zahlreiche Menschen auf offener Straße, und viele, die wenigstens in ihren Häusern umkamen, machten erst durch den Gestank ihrer verwesenden Körper die Nachbarn darauf aufmerksam, dass sie tot waren. […] Diese Toten wurden nicht mit Tränen, Kerzen oder Geleit geehrt; vielmehr war es so weit gekommen, dass man sich um sterbende Menschen nicht mehr kümmerte als heutzutage um krepierende Ziegen. […] Ein Unheil solchen Ausmaßes bringt sogar die einfachen Leute dazu, es teilnahmslos hinzunehmen. […] Man hob auf den Kirchhöfen, als alles belegt war, ganz große Gruben aus und warf die hinzukommen- den Leichen zu Hunderten hinein. (Giovanni Boccaccio, Decamerone; in: Borst, Lebensformen imMittelal­ ter, 1979, S. 113 ff.) Nenne die Gründe, die Boccaccio für das Entstehen der Pest angibt und beschreibe die Verhaltensweisen der Menschen. Vierhundert Jahre lang – immer wieder die Pest Schon in der Antike und im Frühmittelalter war diese epidemische Krankheit in Europa aufgetreten. Danach aber blieb unser Kontinent für Jahrhunderte von ihr ver- schont. Erst zwischen 1347 und 1350 fegte die nächste und schlimmste Pestwelle über Europa hinweg, weitere folgten in Abständen von nur wenigen Jahren. Heute wird der Bevölkerungsschwund bis zum Ende des 14. Jh. auf 20 bis 50% geschätzt, während man für die asiati- schen Pestgebiete (China, Indien) 60 bis 90% Todesop- fer annimmt. Vierhundert Jahre lang kam die Seuche immer wieder zum Ausbruch, zuletzt aber doch in grö- ßeren zeitlichen Abständen und begrenzt auf kleinere Gebiete. Erst seit zweihundert Jahren ist sie aus dem Abendland gänzlich verschwunden.  Versorgung von Kranken. (Manoscritto Gaddiano 247, Pergament o.J.) 20.2 Die Agrarkrise Überproduktion trotz Mangel an Arbeitskräften Hungersnöte, Kriege, vor allem aber die Pest veränder- ten die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhält- nisse seit der zweiten Hälfte des 14. Jh. bedeutend: Durch den enormen Rückgang der Bevölkerung gab es jetzt Boden, Produktions- und Konsumgüter im Über- maß, dafür fehlten die Arbeitskräfte. Das hatte verschie- dene Folgen: –– Ganze Ortschaften starben aus oder wurden freiwillig geräumt. Durch diese so genannten Wüstungen ver- ringerte sich die Zahl der Siedlungen im Deutschen Reich etwa um ein Viertel, in manchen Gegenden so- gar um die Hälfte. Felder wurden nicht mehr bebaut, sondern als Weide benutzt oder – in schlechten La- gen – der Verwilderung überlassen. –– In den vorangegangenen Jahrhunderten waren die Preise wegen der gewachsenen Nachfrage bei Grund- nahrungsmitteln (besonders bei Brot) gestiegen. Nun aber wurde zu viel produziert, der Getreidepreis stürz- te ab. Das führte zu einer Preisschere mit den hand- werklichen und gewerblichen Produkten in der Stadt. Diese wurden auf Grund des Arbeitskräftemangels immer teurer. –– Das Einkommen der Grundherren sank: Sie bekamen von den wenigen Bäuerinnen und Bauern insgesamt weniger Erträge und auch auf ihren Eigengütern fehl- te das Gesinde als Arbeitskraft. Das hatte die Auflö- sung vieler grundherrlicher Meierhöfe zur Folge. Vie- le Hörige flüchteten damals in die Stadt, um eine Lohnarbeit anzunehmen. –– In vielen Teilen Westeuropas und in den Alpenlän- dern führte diese Entwicklung zur Aufhebung der Leibeigenschaft. Nur in Osteuropa gelang es den Grundherren, ihren Eigenbesitz über das herrenlose Land auszuweiten und die Untertänigen noch fester an die grundherrlichen Höfe zu binden. Die Agrarkrise erfasste aber nicht den gesamten Bau- ernstand. Dort, wo die Grundherren die Robot- und Ab- gabenverpflichtungen senkten, wurde die wirtschaftli- che Not spürbar gelindert. Dazu konnten viele Bäuerin- nen und Bauern ihren Besitz durch Erbschaft oder Über- nahme des herrenlos gewordenen Landes beträchtlich vergrößern. Gerade im Umkreis von Städten versuchten so manche sich den neuen Bedingungen anzupassen und stellten die Produktion um: Anstelle von Getreide bauten sie Obst und Gemüse, Flachs oder Hanf an; die städtischen Bierbrauer kauften Hopfen und Gerste, auch Wein fand bei den Bürgern guten Absatz. Die verstärkte Nachfrage der städtischen Mittel- und Oberschicht nach Fleisch nutzten viele Bäuerinnen und Bauern zur Um- stellung auf Viehzucht. In vielen Teilen Europas wurde nun auch vermehrt Schafzucht betrieben – die aufblü- hende Textilindustrie brauchte Wolle. Ein allgemeiner Aufschwung der Landwirtschaft vollzog sich jedoch erst um die Mitte des 15. Jh. Er war verbunden mit einem Anstieg der Bevölkerung. Die Produktionszahlen und die Siedlungsdichte des frühen 14. Jh. wurden jedoch bis zur „Agrarrevolution“ des 18. Jh. nicht mehr erreicht. Das Mittelalter – eine 1000-jährige Epoche 123 Nur zu Prüfzw cken – Eigentum des Verlags öbv

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