Zeitbilder 7/8, Arbeitsheft

M2 Dieses Interview hat eine Maturantin für ihre VWA im Juli 2014 mit einer ehemaligen kurdischen Freiheits- kämpferin geführt: Wie verläuft ein Tag, das Leben allgemein für eine Guerilla- kämpferin oder einen Guerillakämpfer? Es gibt zwei Lebensstile. Im Sommer machen wir krie- gerische Operationen, aber natürlich versuchen wir auch unsere menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Im Winter haben wir meist Training, wobei jeder da- ran teilnimmt. Aber es findet nicht nur körperliches Training statt, sondern wir setzen uns auch zusam- men und debattieren über Politik, Soldaten, Frauen und Gesellschaft, um sozusagen aufzufrischen, wa- rum wir hier sind, warum wir den Tod riskieren. Die PKK kämpft nicht nur, sondern muss auch die ganze Weltpolitik verfolgen. Wenn wir immer die neuesten Nachrichten verfolgen, haben wir wieder einen stär- keren Willen zum Kämpfen. Wann und wie lange haben Sie gekämpft, in welcher Region waren Sie dort? Ich bin im Mai 1999, einen Monat, nachdem Abdul- lah Öcalan zum Tod verurteilt worden war, der PKK beigetreten, denn die Guerillakämpfer mussten sich damals auch gegen Angriffe aus dem Ausland vertei- digen und brauchten Unterstützung. Ich habe 12 Jahre auf den Bergen verbracht und während dieser Zeit bin ich viel herumgekommen, vor allem in den heute in der Türkei liegenden Orten Sirnak, Cizre und Hakkari. Ich befand mich dort immer in Kriegs- gebieten und habe gelernt, was es heißt, eine Gueril- lakämpferin zu sein. Wie hat Ihre Familie reagiert, als Sie Guerillakämpferin werden wollten? Keine Mutter und kein Vater bringt Kinder für den Krieg auf die Welt. Aber wenn dein Land besetzt wird, so viele Menschen in Todesgefahr sind und Un- terstützung brauchen und du selbst bereit bist, dein ganzes Leben zu Hause aufzugeben, dann ist es schon entschieden. Mein Großvater fragte mich, was ich in meinem Alter im Krieg mache, daraufhin habe ich geantwortet: „Großvater, wenn du es zu deiner Zeit getan hättest, müsste ich das jetzt nicht machen.“ Ich bereue keinen Moment, dort gewesen zu sein, auch wenn ich gegen Gewalt und Krieg bin. Wenn einer von den Gegnern einmal in unsere Gewalt ge- riet, haben wir ihm auf keinen Fall körperliche Ge- walt zugefügt, da wir alle nie zu grausamen Men- schen ohne Gewissen werden wollten. Wie sah es aus mit der Hygiene? Also duschen, schlafen und essen? Wie haben Sie die Nahrungsmittel aufgetrieben? Ich möchte bei dieser Frage nicht zu sehr ins Detail ge- hen, aber ich kann sagen, dass wir unter der Erde Tun- nelsysteme für unsere Sicherheit haben. Aus gewissen Dörfern in der Umgebung können wir Vorräte holen. Was die Hygiene betrifft, sind die Menschen natür- lich ziemlich heikel. Natürlich haben wir auch immer versucht, gepflegt zu sein, doch in den Bergen wäh- rend der Kriegszeit ist das ziemlich schwer. Manch- mal konnten wir uns über einen Monat lang nicht wa- schen, denn man sollte dem Feind keine Gelegenheit bieten anzugreifen. Aber wenn wir einmal die Mög- lichkeit sahen, dann haben wir sie auch genutzt. Vor allem wir Frauen versuchten, auf Hygiene zu achten. Oft hatten wir über Tage oder Wochen nicht die Chance, in Ruhe zu essen oder zu trinken, dann gab es wieder Tage, da haben wir viel gegessen. Auf- grund dieser unregelmäßigen Ernährung sind viele von uns krank geworden. Aber auch wenn man nur ein Stück Brot isst, kann das schon viel Kraft geben unter diesen Umständen. Denn man lebt und kämpft für sein eigenes Volk. Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie zum ersten Mal dort waren? Ich zum Beispiel bin in einer Stadt aufgewachsen. Von dort in einen Lebensraum zu kommen, wo man auf dem Boden schläft, tage- oder wochenlang hun- grig und durstig bleibt, friert und eine Waffe trägt, ist nicht leicht. Wenn du das erste Mal dort bist, weißt du natürlich, dass du das Leben einer Guerillakämp- ferin führen musst, aber du erwartest nicht, dass es so schlimm ist. Aber je mehr man mit diesen Schwie- rigkeiten lebt, umso schöner wird es. Warum? Weil du immer klarer begreifst, warum du das tust. Es hängt auch von dir selbst ab: Wieviel dir dein Volk, deine Freunde und deine Familie und dein Leben wert sind. Je mehr man über solche Dinge nach- denkt, desto unwichtiger wird alles andere und man fängt an, sich anzupassen. Bis ich mich angepasst hatte, vergingen 3 Monate. Die Berge waren meine Lehrer, dort habe ich das Leben, Menschlichkeit, Ge- fühle, Denken und eine Frau zu sein gelernt. Dort bin ich erwachsen geworden. Waren dort viele Frauen? Ich möchte jetzt keine genaue Zahl geben, aber es befanden sich sehr viele Frauen dort. Es gab Berei- che, wo die Hälfte Frauen waren, aber auch Gebiete mit mehr Frauen als Männern. Aber verglichen mit den männlichen Kriegern gibt es nicht so viele. Wie waren die Verhältnisse innerhalb der Gruppe? Sind alle gut miteinander ausgekommen? Gab es jemals Streitereien? Als Guerillakämpfer muss man in der Lage sein, so- wohl alleine, als auch mit anderen zu agieren. Das wichtigste ist, das Ziel zu erreichen und ein guter Mensch und Krieger zu sein. Man muss sich an die an- deren anpassen. Auf den Bergen kommt es, auch wenn es für manche Menschen unglaublich klingt, nie zu ir- gendwelchen Lästereien, Hänseleien oder Beleidigun- gen innerhalb der Gruppe, keiner verurteilt den ande- ren, weil er anders ist. Guerillatruppen bestehen nicht nur aus Kurden, sondern es schließen sich zum Beispiel auch Deutsche, wie Andrea Wolf, eine gefallene Ge- fährtin, an. Es gab oft gemischte Gruppen aus Deut- schen, Türken, Tscherkessen, Aserbaidschanern, Per- sern und Arabern. Aber wir haben uns immer bemüht, alle bei uns aufzunehmen und niemanden auszuschlie- ßen. Alle kämpfen für die Freiheit der Kurden. Neue Kämpferinnen und Kämpfer sollen sich stets mit ihrer Online-Ergänzungen 83xb67 25 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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