Zeitbilder 7/8, Arbeitsheft

3 Begegnungen mit Menschen in Österreich 3.2 Migrantinnen und Migranten | Gegenwart Menschen verlassen aus unterschiedlichsten Gründen ihre Heimat. Sie versuchen auf legalem oder illegalem Weg in ein anderes Land, nicht selten auch auf einen anderen Kontinent zu gelangen, um sich dort ein neues Leben aufzubauen. Diese Reise ist gefährlich, wenn man zum Beispiel an die Schlepperboote im Mittelmeer denkt, die völlig überladen und in seeuntüchtigem Zustand vielfach von den Schleppern einfach im Stich gelassen werden. Wer Glück hat, wird von der italienischen Marine oder von einem anderen Schiff gerettet und kommt in ein Auf- fanglager. Dort wird über ihr oder sein weiteres Schicksal entschieden. Der Weg über das Mittelmeer ist aber nicht der einzige, den Schlepper verwenden, um Flüchtlinge nach Europa zu bringen. In diesem Kapitel kommen zwei Menschen zu Wort – ein Afghane und eine Kurdin. Sie sind über die Balkanroute nach Österreich gekommen. Ihre Motive waren völlig verschieden. Beide wurden von Schülerinnen für eine Vor- wissenschaftliche Arbeit (VWA) interviewt und es war ihnen beiden wichtig, ihre Sichtweise Schülerinnen und Schülern näher bringen zu dürfen. Die Kurdin bedankte sich nach Abschluss des Interviews ausdrücklich dafür. Wir haben es hier also mit zwei authentischen Zeitzeugenberichten zu tun, die aber nicht unhinterfragt hingenom- men, sondern kritisch analysiert werden sollen. M1 Herr Rahmatollah Musawi, ein schiitischer Familien- vater, der mit seiner Familie aus Afghanistan mit Schleppern nach Österreich gekommen war, erzählt für die VWA seiner Tochter Malaley im August 2014 von dieser Flucht: Einer der Gründe für unsere Flucht war der Sturz Dr. Najibullahs (Ich war zu seiner Amtszeit Armeeange- höriger.) im Jahr 1992 und die Machtübernahme der Mujaheddin. Die Hauptstadt Kabul war durch die Kämpfe verfeindeter Milizen zerstört worden. Des- halb beschloss ich, gemeinsam mit meiner Familie Afghanistan zu verlassen, und in den Nachbarstaat Iran zu flüchten. Dort verbrachte ich mit meiner Familie einige Jahre, doch da wir keine Aufenthaltserlaubnis hatten, durf- ten weder die Kinder die Schule besuchen, noch mei- ne Frau und ich einen Beruf ausüben. Dennoch ha- ben meine Frau und ich einige Male versucht, unsere Kinder an einer öffentlichen Schule anzumelden, al- lerdings vergeblich. Die Direktorinnen sagten immer wieder, sie könnten niemanden annehmen, der über keine iranischen Dokumente verfüge. Ich kann mich noch erinnern, wie meine kleine Toch- ter zu einer dieser Direktorinnen sagte: „Sie brau- chen mich doch gar nicht mit Namen anzumelden, vielleicht könnte ich anonym teilnehmen.“ Leider half auch das nicht, und meine kleine Tochter musste mit Tränen in den Augen das Gebäude verlassen. Das war einer der traurigsten Momente in meinem Leben. Einige Zeit später wurde ich von der iranischen Poli- zei verhaftet und nach 40-tägiger Haft nach Afgha- nistan abgeschoben. Doch ich kam mit Schleppern wieder in den Iran. Da haben meine Frau und ich be- schlossen, nach Europa zu flüchten, weil wir nicht so weiterleben wollten. Wir haben mit Schleppern den Iran verlassen und sind in die Türkei gekommen. Das klingt jedoch leichter gesagt als getan. Als wir nach stundenlanger Wanderung endlich die Grenze zur Türkei überschritten hatten, erwartete uns eine un- angenehme Überraschung. Da bald der Tag anbre- chen würde, fanden wir Schutz in einer Höhle auf einem Berg. Meine Familie, zwei weitere Familien und einige Männer, die mit uns den Iran verlassen hatten, waren bei uns. Der Schlepper hatte uns ver- boten, die Höhle zu verlassen und zeigte mir, dass sich in unserer Nähe ein Militärstützpunkt befand. Mit Anbruch der Dunkelheit stiegen wir den Berg herab, doch unten sahen wir, dass sich Polizeiautos näherten. Der Schlepper, der die Polizei schon viel früher bemerkt hatte, führte uns nach rechts zu gro- ßen Steinen neben dem Weg. Dort sollten wir auf ihn warten. Aber er kam nicht mehr zurück. Wir hatten keine andere Wahl, außer einige Stunden in der Dunkelheit zu warten, dann fing es auch noch an zu regnen. Erst als wir sicher waren, dass die Poli- zei weitergefahren war, gingen wir weiter. Denn als der Schlepper mir von der Höhle aus den Militär- stützpunkt gezeigt hatte, hatte ich die Gelegenheit genutzt und mir die Umgebung genauer angesehen. Deshalb wusste ich, dass sich nicht weit entfernt vom Berg ein kleines Dorf befand. Nach etwa einer Stunde erreichten wir das Dorf. Dort haben wir an eine Haustür geklopft und zwei Frauen öffneten die Tür. Da sie uns kaum verstanden, kam ein Mann, der die persische Sprache einigermaßen beherrschte. Nachdem ich ihm unsere Geschichte er- zählt und unseren Schlepper beschrieben hatte, bat er uns, in seinem Haus zu warten. Etwa 10 Minuten später kam er mit dem Schlepper zurück. Ich weiß gar nicht mehr, wer von uns über- raschter geschaut hat, der Schlepper oder wir. Ein weiterer Schlepper brachte uns nach mehrtägiger Autofahrt nach Istanbul. Da die Fluchtwege im Win- ter zu gefährlich waren, verbrachten wir dort den ganzen Winter. Dann kontaktierten wir einen neuen Schlepper, der uns bis nach Österreich brachte – manchmal zu Fuß, mit dem Taxi oder sogar in Bussen und in anderen größeren Fahrzeugen. Nun lebe ich gemeinsam mit meiner Familie seit 2002 hier in Österreich. (Interview Malaley Musawis mit ihrem Vater Rahmatollah Musawi, August 2014; Übers. aus dem Persischen v. Malaley Musawi) 24 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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