Zeitbilder 7/8, Arbeitsheft

3 Begegnungen mit Menschen in Österreich 3.1 Roma und Sinti | Gegenwart Schon seit etwa 600 Jahren leben Roma im heutigen Österreich. Seit dem 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg sind auch die Gruppen der Sinti und Lovara zugewandert (vgl. Zeitbilder 7, S. 100 f. bzw. Zeitbilder 7/8, S. 90 f.). Bis in die 1990er-Jahre hat man diese aus vielen, zum Teil sehr unterschiedlichen Gruppen bestehende Minderheit als „Zigeuner“ bezeichnet. Erst seither wird für diese Volksgruppe(n) anstelle des negativ belasteten Begriffs „Zi- geuner“ der Sammelname „Roma“ (Romanes-Bezeichnung für Mensch, Mann) verwendet. Trotz ihrer Verfolgung und teilweisen Vernichtung während der NS-Diktatur wurden die überlebenden Roma vom östereichischen Staat erst nach dem „Gedenkjahr 1988“ als Opfer anerkannt. 1993 endlich wurden sie neben den Slowenen, Kroaten, Ungarn, Tschechen und Slowaken als eigene Volksgruppe mit eigener Sprache (Romanes) und den gesetzlich vorgesehenen Rechten (entsprechend dem Volksgruppengesetz von 1976) anerkannt. Österreich war damit der erste Mitgliedsstaat der EU, in dem die Roma diese Rechtsstellung erlangt hatten. Dennoch gibt es in der österreichischen „Mehrheitsbevölkerung“ teilweise noch immer Vorurteile gegenüber dieser Bevölkerungs- gruppe. Diese wiederum hat sich in den letzten Jahrzehnten in etlichen Vereinen und Initiativen organisiert – ei- nerseits, um die Roma in ihrem gesellschaftlichen Dasein als Minderheit vielfältig zu unterstützen, andererseits auch, um gesellschaftspolitische Arbeit zu leisten und das umfassende Kulturgut dieser Minderheit zu bewahren und zu vermitteln. M1 Dieses schriftliche Interview wurde im Mai 2015 mit Zaklina Radosavljevic, der damaligen Obfrau von „Romano Centro“, geführt. Der österreichische Verein existiert seit 1991, er vertritt Roma aus unterschiedli- chen Gruppen und setzt sich für die Verbesserung der Lebensbedingungen von Roma und gegen deren Diskri- minierung ein. 1. Wie erleben Sie persönlich bzw. als Vertreterin der Volks- gruppe der Roma das Verhältnis zur „Mehrheitsgesell- schaft“ in Österreich, vor allem in Bezug auf Chancengleich- heit und Integration? Chancengleichheit ist vor allem ein soziales Problem und steht daher auch stark in Verbindung mit dem Zugang zu diversen Gütern und Dienstleistungen. Dazu gehören vor allem die Bereiche Arbeit, Wohn- raum, Gesundheit und insbesondere Bildung. All diese genannten Faktoren begünstigen Chan- cengleichheit, und wenn der Zugang schwer erreich- bar und gleichzeitig mit Diskriminierung und jahr- hundertelanger Verfolgung verbunden ist, so trifft dies auf stark benachteiligte Gruppen, wie die Volks- gruppe der Roma, zu. Selbstverständlich sind Pau- schalurteile zu vermeiden, aber sehr viele Roma ha- ben mit den Folgen der Diskriminierung im Alltag und am Arbeitsmarkt zu kämpfen. 2. Mit welchen Vorurteilen bzw. Stereotypen ist Ihre Volks- gruppe (noch immer) konfrontiert, welche Menschen inner- halb der Volksgruppe sind besonders davon betroffen? Von Diskriminierung kann jede und jeder unserer Volksgruppe betroffen sein, weil seit Jahrhunderten bestehende Stereotype, z. B. dass „Zigeuner“ „dreckig, faul, arbeitsscheu oder Nomaden“ seien, immer noch nachwirken. Romantisierende Klischees, wie „Zigeuner haben Musik im Blut“ oder „die schö- ne Zigeunerin“, sind auch nicht hilfreich, um echte Gleichstellung zu erreichen. Die Hautfarbe spielt bei der Stigmatisierung [= Kennzeichnung mit diskrimi- nierenden, negativen Merkmalen; Anm. d. A.] als „Zigeuner“ ebenfalls eine wichtige Rolle. Auch in Schulen oder am Arbeitsmarkt sind Vorurteile keine Seltenheit. 3. Was wünschen Sie sich von der österreichischen „Mehr- heitsgesellschaft“, damit das Zusammenleben mit Ihrer Volksgruppe (weiter) verbessert werden kann? Die Mehrheitsgesellschaft soll für gewisse Fragen sensibilisiert werden. Antiziganismus [= Feindlich- keit gegenüber Roma und Sinti; Anm.d.A.] ist ein Problem, welches nicht von der Volksgruppe ver- ursacht wurde, sondern von der Mehrheitsgesell- schaft. Dass Roma jahrhundertelang verfolgt, diskriminiert und während der Zeit des Nationalsozialismus ver- nichtet wurden, wird viel zu wenig thematisiert. Der gegenwärtige Antiziganismus steht im engen Zu- sammenhang mit der mangelnden Aufarbeitung der Massentötung an Roma. Bildungsstätten könnte bei der Vermittlung dieser Lehrinhalte eine grundlegen- de Rolle zukommen, damit wäre ein erster Schritt in Richtung Bekämpfung des Antiziganismus gesetzt. 4. Sind Ihrer Meinung nach die gesetzlichen Rahmenbestim- mungen zum Schutz bzw. zur Förderung Ihrer Volksgruppe ausreichend? Wenn nein, welche Änderungen wären notwendig? Es wird zwischen autochthonen und allochthonen Roma unterschieden. Roma sind offiziell als sechste Minderheit in Österreich anerkannt, dadurch genie- ßen sie, wie andere anerkannte Volksgruppen, den Schutz der Sprache und der Kultur; es existieren auch entsprechende Förderprogramme. Allochthone Roma sind jene, die einen Migrations- hintergrund haben und vor allem im Zuge der Gastar- beiterpolitik (oft aus dem ehemaligen Jugoslawien) nach Österreich eingereist sind. Die meisten in Wien lebenden Roma gehören zu dieser Gruppe, zählen aber nicht zur anerkannten Minderheit. Politische Versäumnisse sind dabei evident, und dies hat Aus- wirkungen auf die Integration, auf die Bildung und auf den Zugang zu gewissen Gütern und Dienstleis- tungen. Die Politik ist daher gefordert, Änderungen herbeizuführen. (Schriftliches Interview des Zeitbilder-Autors Alois Scheucher mit Zaklina Radosavljevic, Mai 2015) 22 Nur zu Prüfzweck n – Eigentum des Verlags öbv

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