Zeitbilder 7/8, Arbeitsheft

2 Gedenk- und Erinnerungskulturen 2.1 Erinnerungen von Holocaust-Überlebenden in der Kunst | Mitte 20. Jh. – Gegenwart Viele Holocaust-Überlebende litten nach dem Ende des Nationalsozialismus unter einer massiven Traumatisie- rung. Der Psychiater William Niederland prägte den Begriff vom „Überlebens-Syndrom“: Über die grauenhaften Erlebnisse– Verfolgung, Todesangst, Deportation, Hunger, Folter, Erniedrigung, die Ermordung ihrer Familienmit- glieder – konnten viele nicht reden, nicht einmal mit ihren Kindern oder Enkeln. Einige Holocaust-Überlebende aber versuchten ihre Vergangenheit zu bewältigen, indem sie als Zeitzeuginnen und Zeitzeugen Aufklärungsarbeit leisteten und nach wie vor leisten, andere schrieben darüber oder versuchten durch das Anfertigen von Kunstwerken das Erlebte zu dokumentieren, vielfach auch, um es so besser verarbeiten zu können. In der bildenden Kunst entstanden daher Gemälde, Zeichnungen und Comics, die Holocaust-Überlebende bzw. deren Kinder oder Enkel über den Holocaust anfertigten. Eine spezielle Form von Comics sind „Graphic Novels“. Der Begriff wurde 1978 von Will Eisner geprägt. Man ver- steht darunter Comics von individueller Form und Länge, die ernsthafte und komplexe Geschichten erzählen. Manchmal nimmt ein Bild eine ganze Seite ein, Sprechblasen und Zwischentexte sind in die Bilder integriert. Meist richten sie sich an erwachsene Leserinnen und Leser. Graphic Novels zu historischen Themen gehören– ebenso wie historische Spielfilme– zum Bereich erzählender Geschichtsvermittlung. Viele Künstlerinnen und Künstler betreiben für ihre historischen Graphic Novels intensive Recherchen, indem sie z. B. Zeitzeuginnen und Zeitzeugen befragen und historische Quellen studieren. M1 Cover der Graphic Novel „MAUS: A SURVIVOR‘S TALE“ von Art Spiegelman: M2 Zusatzinformationen zur Graphic Novel „Maus“ von Art Spiegelman: Zur Entstehung: Das Werk „Maus. A Survivor’s Tale“ (deutsch „Maus. Die Geschichte eines Überlebenden“) wurde vom New Yorker Art Spiegelman verfasst. Der erste Band trägt den Titel „My Father Bleeds History“ (1986), (deutsch „Mein Vater kotzt Geschichte aus“, 1989), der zweite Band „And Here My Troubles Began“ (1991), (deutsch: „Und hier begann mein Unglück“). Spiegelmans Vater Wladek war ein Auschwitz-Über- lebender und erzählte dem Sohn in vielen Gesprä- chen vom Leben der Familie in Polen in den 1930er- und 1940er-Jahren und von seinen grauenhaften Er- innerungen an den Holocaust. Auch die komplizierte Vater-Sohn-Beziehung und die Reaktionen Art Spie- gelmans auf die Erzählungen seines Vaters werden im Comic thematisiert. Der Comic im Stil eines schwarz-weißen „Undergroundcomic“ stieß einer- seits auf scharfe Kritik und Proteste, auch von eini- gen Shoa-Überlebenden. Andererseits wurde er von der Kritik hochgelobt und gilt bis heute als eine der besten Graphic Novels. 1992 wurde Spiegelman mit demPulitzer-Preis ausgezeichnet, etwas Einzigartiges für einen Comic. Zur Sprachverwendung: Spiegelman lässt seinen Vater als Überlebenden in drei Sprachformen erzählen, die den drei Zeit- und Handlungsebenen im Comic entsprechen. In Polen redet er Jiddisch oder Polnisch, was der Autor als per- fektes Englisch wiedergibt (wird in korrektes Deutsch übersetzt). Über die Zeit der Verfolgung berichtet Wladek als Überlebender in den USA in einem gebro- chenen, vom Jiddischen (das ist seine Muttersprache) geprägten Englisch (wird als gebrochenes Deutsch mit jiddischen Ursprüngen übersetzt). Die jiddische Grammatik weist einige Besonderheiten auf: Perfekt- Verwendung, Dativ statt Akkusativ-Formen, eine spe- zielle Satzstellung und mehrfache Verneinungen. Zur Tiermetaphorik: Die Figuren der Geschichte werden zwar als Men- schen dargestellt, sie haben aber Tierköpfe. Man kann die Handlung als Fabel ansehen: Juden wer- den als Mäuse, Deutsche als Katzen, US-Amerikaner als Hunde, Polen als Schweine (was zu Verbrennun- gen des Buches in Polen führte), Franzosen als Frö- sche und Briten als Fische dargestellt. Man bezeich- net dies auch als „Tiermetapher“: Ein sprachliches Bild (= Metapher) aus dem Tierreich wird auf Men- schen oder die Gesellschaft übertragen. Durch die Verwendung von Tiermetaphern und das Medium Comic will Spiegelman Distanz zum erzählten Grau- en herstellen: „Ich muss die Ereignisse und die Erin- nerung des Holocaust zeigen, ohne sie zu zeigen. Ich will die Maskierung dieser Ereignisse in ihrer Darstellung zeigen.“ Wenn ein Charakter vorgibt, einer anderen Gruppe anzugehören, trägt er (sym- ** Cover der Graphic Novel MAUS: A SURVIVOR‘S TALE von Art Spiegelman. © 1973, 1980, 1981, 1982, 1983, 1984, 1985, 1986 von Art Spiegelman; Verwendung mit freundlicher Genehmigung von The Wylie Agency (UK) Limited 10 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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