Zeitbilder 5/6, Arbeitsheft

4 Moderne Staaten entstehen 4.1 Nationalstaaten werden gegründet | 19. Jahrhundert Das 19. Jahrhundert gilt vor allem für Europa als das Jahrhundert erfolgreicher Gründungen neuer Nationalstaa- ten, aber ebenso auch mit Gewalt unterdrückter erfolgloser Versuche. Griechenland, Italien, Deutschland, Ru- mänien und Serbien zählen zu ersteren, Polen und Irland zu letzteren. Die jeweiligen Wege zur Gründung von Nationalstaaten verliefen unterschiedlich. Besonders betroffen von dieser Entwicklung waren die Habsburger- monarchie und das Osmanische Reich. Im Falle der Habsburgermonarchie ging es dabei zunächst vor allem: – um ihre Herrschaft in Ober- und Mittelitalien, – um ihre Rolle dabei, wie sich die zahlreichen „deutschen Staaten“ politisch organisieren sollten. Seit 1815 war die Monarchie zusammen mit dem Königreich Preußen das mächtigste Mitglied im „Deutschen Bund“. – um ihr Bestehen als multinationaler Staat. M1 Der deutsche Historiker Christoph Nonn schreibt über Nationalstaatsbildungen im 19. Jahrhundert: Die Neuordnung Europas nach den napoleonischen Kriegen auf dem Wiener Kongress brachte (…) we- der ein geeinigtes Italien noch einen deutschen Einheitsstaat. (…) Radikale italienische Patrioten zet- telten bis 1849 eine Reihe von Aufständen an. Doch alle wurden (…) niedergeschlagen. Auch nördlich der Alpen scheiterten während der Revolution von 1848/49 sämtliche Versuche, mit Diplomatie oder Waffengewalt aus rund drei Dutzend Territorien ei- nen deutschen Staat zu formen. Große Teile beider Nationalbewegungen verlegten sich seitdem zuneh- mend darauf, das Bündnis mit einer der existieren- den Territorialherrschaften zu suchen. Preußen sollte so zum Kristallisationskern des deutschen National- staates werden, während die italienischen Nationa- listen auf Piemont-Sardinien als Magnet der italieni- schen Einigung setzten. Tatsächlich erzielte diese Taktik bald Erfolge. Piemont-Sardinien (…) nutzte geschickt Spannungen zwischen den europäischen Großmächten aus. (Es) gewann Frankreich als Ver- bündeten gegen die österreichischen Habsburger, die das Haupthindernis für eine Einigung Italiens bildeten. Gemeinsam besiegten Franzosen und Pie- montesen 1859 die österreichische Armee. Im nächs- ten Jahr beseitigten Aufstände, militärische Aktio- nen von Nationalisten unter Führung von Guiseppe Garibaldi und Volksabstimmungen für einen An- schluss an Piemont die Herrschaft der Fürsten in den anderen Territorien der Halbinsel. Die Habsburger und der französische Kaiser Napoleon III., der sich durch die Ereignisse etwas überfahren fühlte, stimm- ten schließlich widerwillig der 1861 vollzogenen Gründung eines italienischen Nationalstaates zu. (…) Auf die italienische Einigung folgte innerhalb eines Jahrzehnts auch die Gründung eines deutschen Ein- heitsstaates. Hier bildete die Nationalbewegung al- lerdings eher eine Kraft im Hintergrund. Motor der Entwicklung war im deutschen Fall vielmehr der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck. Bismarck strebte zunächst nur die Vorherrschaft Preußens in dem 1815 gebildeten (…) Deutschen Bund an. Österreich beanspruchte eine solche Domi- nanz jedoch ebenso. Ein Krieg des Bundes gegen Dä- nemark 1864 und ein darauf folgender Streit um die Verwaltung der Kriegsbeute Schleswig-Holstein lie- ferten Bismarck den Anlass für eine militärische Ent- scheidung des Konflikts. Das Habsburgerreich unter- lag im „Deutschen Krieg“ von 1866 gegen Preußen. (…) (Nonn, Christoph: Das 19. und 20. Jahrhundert. Orientierung Ge- schichte, Paderborn 2007, S. 211 f.) M2 Der deutsche Historiker Heinrich August Winkler beur- teilt die Bedeutung des militärischen Erfolges von Preu- ßen im Jahr 1866: Der deutsche Krieg von 1866 hatte in der Tat eine Umwälzung der politischen Verhältnisse in Deutsch- land bewirkt. Die Herstellung der preußischen Hege- monie mit Hilfe militärischer Gewalt markierte das Ende jenes Dualismus zwischen den Häusern Habs- burg und Hohenzollern, der seit dem Regierungsan- tritt Friedrichs des Großen im Jahre 1740 die deut- sche Geschichte geprägt hatte. (…) Der Krieg von 1866 brachte die Deutschen der Einheit ein großes Stück näher, indem er die großdeutsche Lösung aus- schloss und ein wesentliches Hindernis der klein- deutschen Lösung beseitigte. (…) (Winkler, Heinrich August: Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München 2009, S. 776 f.) M3 Der österreichische Historiker Helmut Rumpler beur- teilt die Bedeutung des Krieges von 1866 folgender- maßen: Worum es bei dem Ereignis von 1866 aus öster- reichisch-deutscher Perspektive ging, hat Ernst Ru- dolf Huber (…) dargelegt. Es handelte sich um die Entscheidung zwischen dem „revolutionären Recht der souveränen deutschen Nation“ auf den National- staat gegenüber dem „überlebten Recht Österreichs auf Erhaltung des Bundes“. (…) In der Öffentlichkeit Europas war man sich der epochenwendenden Be- deutung des Ereignisses bewusst. Entsetzt reagierte Kardinalstaatssekretär Antonelli in Rom auf die Nachricht von der Niederlage der österreichischen Armee bei Königgrätz mit den berühmten Worten: „Casca il mondo, casca il mondo“ („Die Welt stürzt ein!“). (…) Österreich war in ganz anderer und tieferer Weise von dem Ereignis betroffen. Das neue „Recht der Na- tion“, wie es nun in Deutschland gesiegt hatte, wirk- te auf Österreich als Schock. Man war sich der Fol- gen über den Augenblick hinaus sofort bewusst. (…) Nach dem Sieg der nationalen Revolution in Deutsch- 34 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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