Zeitbilder 5/6, Arbeitsheft

Demokratie und Recht 2 2.3 Handlungsspielräume von Frauen | Mittelalter Im Mittelalter war die rechtliche Stellung einer Frau von der gesellschaftlichen Position des für sie zuständigen Mannes (z. B. Ehemann, Vater) abhängig. Die Möglichkeiten von Frauen, selbstbestimmt und öffentlich zu han- deln, waren demnach sehr eingeschränkt. Trotzdem gab es diese. Vor allem Frauen aus adeligen Kreisen, wie etwa Königswitwen, regierten als Vormünder für ihre unmündigen Söhne, sie vermittelten zwischen Streitparteien, regten Reformen an u. v. a.m. Aber auch Frauen aus den niederen gesellschaftlichen Rängen hatten Handlungsspielräume. Diese reichten zwar weniger weit, waren aber für das alltägliche Leben sehr wichtig. So war bspw. die Ehefrau eines Hörigen zusam- men mit ihrem Mann Pächterin. Sie kümmerte sich nach dem Tod des Mannes um den Hof. Frauen in den Städten durften den Handwerksbetrieb ihres verstorbenen Mannes weiterführen. Wenn eine Frau aus adeligem Hause oder aus dem Bürgertum nicht von einem Mann abhängig sein wollte, konn- te sie ins Kloster gehen; Mägden und Dienstfrauen blieben auch diese Möglichkeiten verschlossen. Die insgesamt eingeschränkte Situation der Frau wurde noch verstärkt dadurch, dass fast alles, was an schrift- lichen oder bildlichen Quellen über Frauen überliefert ist, von Schreibern der Fürstenhöfe und von Männern der Kirche in den Bischofskanzleien und in den Klöstern stammt, also von einem „männlichen“ Blick beeinflusst ist. Daher wird vielfach auch behauptet: Das Mittelalter sei „männlich“. Solche Vorstellungen wurden seit dem späten Mittelalter von herausragenden Frauen, wie der Schriftstellerin Christine de Pizan (1365–ca. 1430), kritisch in Frage gestellt. M1 Der Historiker Ian Mortimer über die rechtliche Stellung von Frauen im Mittelalter: Frauen werden gewöhnlich nicht über ihre Tätigkeit definiert, sondern über ihren Personenstand. Das mittelalterliche Denken kategorisiert 1 sie meist als unverheiratete junge Frauen, Ehefrauen, Witwen und Nonnen. Der Status (gesellschaftliche Stellung, Rang) einer Unverheirateten oder Ehefrau richtet sich nach dem des Mannes, der sie unterhält. Als Mädchen ist dies ihr Vater oder Stiefvater, nach der Hochzeit ist es ihr Ehemann. Sobald sie verheiratet ist, untersteht sie seiner Autorität. Sie muss sich sei- nen sexuellen Wünschen fügen, sie darf ohne seine Zustimmung kein Geld leihen und nicht über ihr Ei- gentum verfügen. (…) Witwen werden oft nach dem Status ihres letzten Ehemannes eingestuft. Diese Situation prägt das Leben der Frauen. Von ihrer Ge- burt bis über den Tod des Ehemannes hinaus leben sie unter der – wenigstens nominellen 2 – Kontrolle eines anderen Menschen, meistens eines Mannes. (Mortimer, Ian: Im Mittelalter. Handbuch für Zeitreisende. München, Zürich 2014, S. 80) M2 Der Historiker Karl Brunner über die finanzielle Absicherung von Ehefrauen im Mittelalter: Bis zum 12. Jh. wurde der Ehefrau vom Mann eine „Dos“ (Gabe des Bräutigams) überschrieben, die bis zu einem Drittel seines Vermögens betragen konnte (z. B. Geld, Vieh, aber auch Hörige; Anm. d. A.). Das brachte ihr ein Mitspracherecht bei wichtigen ökono- mischen Entscheidungen und sicherte eine eventuel- le Witwenschaft ab. Später wurde in der Regel ein „Wittum“, eine Versorgungsleistung vereinbart, aber die junge Frau hatte eine Mitgift 3 mitzubringen. (Brunner, Karl: Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters. München 2012, S. 41) 1 kategorisieren: einteilen, zusammenfassen 2 nominell: dem Namen nach 3 Vermögen in Form von Geld und Gut, das einer Frau bei der Heirat mitgegeben wird M3 Die Historikerin Claudia Märtl über die „Munt“ 4 : Je nach Zeit, Ort und sozialem Stand lassen sich er- hebliche Unterschiede in der rechtlichen Position von Frauen feststellen. (…) Die Vorschriften beruh- ten auf Vorstellungen von einer natürlichen Schwä- che und Schüchternheit der Frau. So waren Frauen von kirchlichen und weltlichen Ämtern fast ganz aus- geschlossen, in ihren rechtlichen Handlungsmög- lichkeiten eingeschränkt und allgemein der Wei- sungs- und Strafgewalt männlicher Angehöriger, der Munt, unterworfen. Bei der am weitesten verbreiteten Form der Eheschließung nach weltlichem Recht übergab der Gewalthaber der Braut die Munt an den künftigen Ehemann. (Märtl, Claudia: Die 101 wichtigsten Fragen. Mittelalter. München 2013, S. 13) M4 Die französische Schriftstellerin und Philosophin Christine de Pizan (1365–ca. 1430) schreibt 1405 über ihre Geschlechtsgenossinnen: Allerorts, in allen möglichen Abhandlungen schei- nen Philosophen, Dichter, alle Redner (…) wie aus einem Munde zu sprechen und alle zu dem gleichen Ergebnis zu kommen, dass nämlich Frauen in ihrem Verhalten und in ihrer Lebensweise zu allen mögli- chen Formen des Lasters neigen. (…) Aber trotz allem, was ich (in Diskussionen; Anm. d. A.) mit ande- ren Frauen (…) aus den unterschiedlichsten sozialen Ständen (…) erfuhr, und obwohl ich äußerst gründ- lich beobachtete und prüfte, fand ich keinerlei An- haltspunkte für solche abschätzigen Urteile über meine Geschlechtsgenossinnen und die weiblichen Stände (damit sind die Jungfrau, die verheiratete und die verwitwete Frau gemeint; Anm. d. A.). (…) Wenn es üblich wäre, die kleinen Mädchen eine Schule besuchen und sie im Anschluss daran genau so wie die Söhne, die Wissenschaften erlernen zu las- sen, dann würden sie genau so gut lesen und die Feinheiten aller Künste und Wissenschaften ebenso 4 Munt: althochdeutsch: Schutz; daraus: Vormund 22 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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