Zeitbilder 5/6, Arbeitsheft

Re- und Dekonstruktion von Geschichte 1 1.3 Dekonstruktion: Untergang des römischen Reiches | Spätantike Die Auflösung des römischen Imperiums während der Völkerwanderungszeit war ein historisches Ereignis von ungeheurer Tragweite: sowohl ein Großreich als auch eine Kulturepoche, die Antike, gingen damit zu Ende. Daher verwundert es nicht, dass Historikerinnen und Historiker über die Gründe des Untergangs immer wieder von neu- em nachdenken. Niemand von ihnen macht nur eine einzige Ursache für den Untergang verantwortlich, aber für jede Historikerin und jeden Historiker sind jeweils andere Gründe wichtig und entscheidend. Solche sind zum Beispiel: Aberglau- ben, Bleivergiftung, Christentum, Verarmung, Wohlstand und Zweifrontenkrieg. Wie die beiden Beispiele „Verar- mung“ und „Wohlstand“ zeigen, werden manchmal auch völlig entgegengesetzte Ansichten als bedeutsamste Ursachen angeführt. Die Darstellung der historischen Ereignisse hängt also wesentlich von der Bewertung der Geschichtsquellen durch die einzelnen Forscherinnen und Forscher ab. Sie schreiben denselben Quellen oftmals eine etwas andere Bedeutung zu, sie ziehen andere Quellen heran oder entdecken sogar neue Quellen. Das führt dazu, dass bisherige Sichtweisen eines Geschehens, wie z. B. der Untergang Roms, neu bewertet werden. Forsche- rinnen und Forscher decken Schwächen oder Fehler veralteter Geschichtsdarstellungen auf, dekonstruieren also unser bisheriges Verständnis von einem bestimmten Ereignis. Der Historiker Alexander Demandt hat bei den 227 Gründen, welche von den Forscherinnen und Forschern für den Fall Roms bisher angegeben wurden, die Für und Wider kritisch abgewogen. Durch seine Dekonstruktionen schuf er bessere Voraussetzungen für künftige Erklärungsversuche. M1 Demandt über das Christentum als Ursache: Betrachten wir zunächst jene Autoren, die dem Christentum einen erheblichen Einfluss auf den Niedergang Roms zugeschrieben haben. Die Verla- gerung aller Hoffnung auf das Jenseits, die Verwei- gerung von Staatsdienst und Wehrpflicht werden von vielen modernen Historikern als staatsschädigend erachtet. Der Einfluss des Christentums auf den Nie- dergang Roms wird nur von solchen Autoren ange- nommen, die entweder dem Imperium oder aber der Kirche distanziert gegenüberstehen. Wer dem Impe- rium wohlwill, betrachtet die Rolle des Christentums im Zerfall des Reiches als bedauerlich, als Schuld. Wer es mit dem Christentum hält, begrüßt diese Wir- kung, betrachtet sie als Verdienst. (…) Es scheint, als ob der Erklärungsfaktor Christentum neuerdings an Anziehungskraft verloren hätte. Er ist dem Einwand ausgesetzt, dass der christliche Osten (Byzanz) über- dauert hat und auch die Germanen Christen waren. (Demandt, Alexander: Zeitenwende. Aufsätze zur Spätantike. Berlin, Boston 2013, S. 139 f.) M2 Über Verarmung und Wohlstand: Der sozialökonomische [= die Gesellschaft und die Wirtschaft gemeinsam betreffende; Anm. d. A.] An- satz ist der bisher am häufigsten verfochtene über- haupt. Er geht aus von den Gegensätzen zwischen der Verarmung der Massen und dem Wohlstand We- niger, von der Verelendung der Landbevölkerung und dem Luxusdasein der Senatoren. Doch der Hin- weis auf die ungleiche Verteilung des Besitzes auf römischer Seite trägt nicht weit. Denn einerseits lag der Lebensstandard des einfachen Landbewohners gewiss noch über dem des einfachen Barbaren [= hier: Angehöriger eines fremden Volkes; Anm. d. A.], und anderseits gab es innerhalb der germani- schen Gesellschaft ähnliche Besitzunterschiede wie bei den Römern. Gegenwärtige Historiker meinen, dass mit der Erschließung des Reichtums der Senato- ren für die Verteidigung, Rom zu retten gewesen wäre. Aber hätte eine Vermehrung der germanischen Söldner nicht just jene Gruppe gestärkt, die das Reich dann gesprengt hat? (A. a. O., S. 140 u. 142, S. 352; Ders.: Der Fall Roms. Die Auflösung des römischen Reiches im Urteil der Nachwelt. 2. erw. u. akt. Aufl., Mün- chen 2014, S. 633; Kürz. u. Vereinf. d. A.) M3 Über Naturerscheinungen: Naturerscheinungen sind immer wieder beliebt. So werden neben der Pest noch immer Seuchen bemüht. Nachdem das Wall Street Journal 1983 die Fama von der Impotenz [= Gerücht von der männlichen Zeu- gungsunfähigkeit; Anm. d. A.] durch Bleivergiftung wieder propagiert und nochmals die Absurdität die- ser These bloßgestellt wurde, machte ein anderer Forscher im Jahr 2001 wieder die schon 1907 be- hauptete Malaria-Epidemie verantwortlich. 2006 wurde eine Umweltkrise aufgrund des Vulkanaus- bruchs des Taupo auf Neuseeland für den Nieder- gang Roms verantwortlich gemacht. Andere Forscher meinten in den 1990er Jahren, ein Kälteeinbruch habe um 400 die germanische Völkerwanderung aus- gelöst. Doch die war zu dieser Zeit längst im Gange. Die Ausbreitung der Germanen war ein Langzeit- phänomen, wie die der Kelten und Griechen zuvor. Dafür reicht keine punktuelle Erklärung aus. Über- dies sind naturwissenschaftliche Erklärungen stets medienwirksam. (Demandt, Alexander: Der Fall Roms. Die Auflösung des römischen Reiches im Urteil der Nachwelt. 2. erw. u. akt. Aufl., München 2014, S. 634; Kürz. u. Vereinf. d. A.) M4 Demandts eigener Erklärungsversuch: „Ohne Berücksichtigung der germanischen Angriffe ist der Zerfall des Imperiums nicht zu erklären.“ Er betont aufgrund seiner intensiven Forschungen das schwankende Verhältnis zwischen Germanen und Römern und die misslungene Symbiose [= Zusam- menleben; Verschmelzung; Anm. d. A.] zwischen den armen, kinderreichen und kriegerischen Barbaren 14 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des V rlags öbv

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