Zeitbilder Politische Bildung 2-4, Arbeitsheft

49 schossen worden. Was redet man mit diesem Jungen, der starr ins Leere blickt? Auf die Frage, was erge- macht hätte, hätte er Europa erreicht, antwortet Ibrahim: „Ich hätte endlich wieder eine Schule besucht“. Er wolle Arzt werden, sagt er, „denn dann kann ich anderen Menschen helfen“. Auch Muntazir gehört zu der Gruppe. Seine Antwort auf die Frage, warum sie Leib und Leben riskieren, um nach Europa zu kommen, ist einfach und brutal: „Um einen sicheren Platz im Leben zu finden.“ Die Entscheidung, sein Land zu verlassen, traf Muntazir, als sein Viertel in Damaskus wochenlang bombar- diert wurde. „Als meine zwölfjährige Tochter begann, wieder ins Bett zu machen“, erzählt er, „wusste ich, wir müssen weg“. Nicht alle Syrer schaffen das. Einige der von den Rebellen kontrollierten Viertel in der Hauptstadt Da- maskus werden von der Armee des Regimes belagert oder ausgehungert. Es ist das geballte Elend, das sich in diesen Vierteln abspielt. Die Lage ist so verzweifelt, dass einige islamische Rechtsgelehrte Fatwas erließen, die den Menschen erlaubten, auch Katzen, Hunde oder Esel zu essen, wenn dies der einzige Weg ist, um zu überleben. Normalerweise ist der Verzehr religiös untersagt. Laut dem UN-Flüchtlings- werk UNHCR gibt es inzwischen mehr als zwei Millionen registrierte syrische Flüchtlinge. Die erste Mil- lion war eineinhalb Jahre nach Beginn des Konflikts erreicht, die zweite bereits ein Jahr darauf. Die Flüchtlinge werden nicht weniger. Bis Ende 2014 könnten es vier Millionen sein. Dabei handelt es sich nur um die registrierten Flüchtlinge, die Dunkelziffer ist weit höher. Hinzu kommen geschätzte 4,5 Millionen Syrer, die im eigenen Land auf der Flucht sind, und es sind nicht nur exotisch arme Menschen, die dieses Schicksal trifft, sondern oft auch solche, deren Lebensstandard einst mit dem europäischen vergleichbar war oder diesen sogar übertraf. Einer von ihnen ist der Anwalt Saddam Akkasch, der in Hama eine Kanzlei besaß, eine große Wohnung und ein Wochenendhaus. Ein gutbürgerliches syrisches Leben eben. Hätte er sich nur nicht in die Politik eingemischt und wäre er nur nicht auf diese Demonstrationen der Anwälte gegangen, um dort eine Rede gegen das Regime zu halten... Der Tipp, mit der ganzen Großfamilie – 17 Personen an der Zahl – sofort das Land zu verlassen, kam schneller als der Zugriff des Geheimdienstes. Nur Geld konnten die Akkaschs mitnehmen, aber auch dieses war bald aufgebraucht. Am Ende mussten sie selbst die Eheringe verkaufen. „Ursprünglich dach- ten wir, dass wir maximal sechs Monate auf der Flucht sein würden, bis sich die Lage in Syrien wieder beruhigt“, erzählt Saddam Akkasch, der es ins Nachbarland Libanon geschafft hat. Früher hat der An- walt oft kostenlos die Armen vertreten. Jetzt berichtet seine Frau Nada Darwisch, dass kürzlich ihre Mut- ter gestorben sei, weil sie sich die neue Batterie für ihren Herzschrittmacher nicht leisten konnten. „Wenn Sie die Batterie nicht innerhalb von 20 Tagen besorgen, stirbt die Mutter“, hatten die Ärzte ge- sagt. Genau 20 Tage später war sie tot. Auch die Schwägerin von Saddam Akkasch musste aus Syrien fliehen. Sie lebt mit ihrem Teil der Familie in einer Wohnung, die aus einem riesigen Matratzenlager besteht. Möbel gibt es nicht. Ein halbes Dut- zend Kinder sitzt herum. Keins geht mehr zur Schule. Ein drei Monate altes Baby ist der kleine Star des Haushaltes. Aber es hat keine Papiere. Einen syrischen Pass kann die Familie nicht mehr besorgen, ei- nen libanesischen gibt es nicht. Ein drei Monate alter Mensch, der bürokratisch nicht existiert. Bei den Bootsflüchtlingen steckt Europa den Kopf in den Sand Die Schwägerin zeigt ein Video von ihrem Sohn, der bei einer Demonstration in Syrien umgekommen ist. Auf dem Film kann man sehen, wie die Mutter die Leiche in den Arm nimmt. Ihr laufen die Tränen über die Wangen. Und dann ist da auch noch ihr zweiter Sohn Zakaria, der bei einer Demonstration in Syrien angeschossen wurde. Die Schüsse haben seine Wirbelsäule verletzt. Schwer verwundet wurde er aus Syrien herausgebracht und notoperiert. Seit einem Jahr liegt er nun schon hier im Libanon – unbehan- delt, ohne medizinische Versorgung, und er spürt nichts mehr im unteren Teil seines Körpers. Zakarias Freund Essam liegt neben ihm auf einer Matratze. Die Familie hat ihn vor kurzem aufgenommen. Wo sollte er hin? In seinem Körper breiten sich Entzündungen aus, die durch die Einschüsse hervorgerufen wurden. Essam ist verzweifelt. „Ich habe doch zwei Nieren“, meint er, man könnte eine herausschneiden und weitergeben. „Ich will kein Geld dafür“, sagt er, „nur dass sich endlich ein Arzt um mich kümmert“. (http://www.badische-zeitung.de/ausland-1/bootsfluechtlinge-die-schwere-ueberfahrt-nach-euro- pa--78822386.html) Zeitbilder 2, S. 55; Zeitbilder 3, S. 31, S. 103, S. 104 f., S. 108 f.; Zeitbilder 4, S. 122 f. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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