Spielpläne Oberstufe, Maturatraining mit Audio-CD

1.1 VOKALSTILE UND -TECHNIKEN 1.1.1 Die primäre Tonerzeugung erfolgt durch das Spannen der Stimmlippen im Kehlkopf, die durch die durchströmende Luft in Schwingungen versetzt werden. Der Klang der Stimme wird durch individuelle Nutzung des Mund- und Rachenraums bestimmt, Teilfrequenzen des Klangs werden dadurch hervor- gehoben oder abgeschwächt. Training bzw. Ausbildung der Stimme erfolgt hinsichtlich der gezielten Atemführung sowie der Nutzung weiterer Resonanzbereiche des Körpers (Kopf, Brustkorb). Kopfregister bedeutet hoher Stimmbereich, bei dem die Kopfräume mitschwingen. Brustregister bedeutet tiefer Stimmbereich mit vorwiegender Resonanz im Brustraum. Hörbeispiel 1: Obertongesang (tibetanische Mönche): durch gezielte Stel- lung von Mund und Rachen werden einzelne Obertöne so verstärkt, dass sie zusätzlich zum Grundton hörbar sind. Damit wird eine Art Zweistimmigkeit erzielt, die aufgrund der Tatsache, dass es sich um nur eine menschliche Stimme handelt, als besonderes Phänomen gilt. Diese Gesangstechnik er- fordert sehr viel Konzentration und Übung. Hörbeispiel 2: Jazzgesang (Ella Fitzgerald): Die Gesangsstimme wird sehr text- und rhythmusbetont eingesetzt, im Mittelteil des Songs erklingt Scat- Gesang, bei dem auf rein klanglich gestaltete Textsilben im Stil von Blas- instrumenten gesungen wird. Scat-Gesang wird im Jazz häufig eingesetzt. Er lässt besonders gut Raum für Improvisation, einem essentiellen Para- meter im Jazz. Scat-Gesang kann aber auch in einem entsprechenden Zusammenhang als Nonsense-Text gelten. Hörbeispiel 3: Sprechgesang: Melodischer Verlauf wird nur angedeutet, der Schwerpunkt liegt am Sprachinhalt. Trotzdem wird die Stimme nicht wie im Alltag gebraucht, sondern in einem deklamatorischen Duktus geführt. Das Erreichen von Lautstärke durch ausreichend starken Einsatz der Stimme ist notwendig, damit auch der Sprechgesang neben der Instrumentalbeglei- tung bzw. dem Orchester hörbar ist. 1.1.2 Die Hörbeispiele beinhalten jeweils einen Ausschnitt aus der Sopranarie aus dem 1. Akt der Oper „La Traviata“ von Giuseppe Verdi. Die Stelle ist ein dramatischer rezitativischer Mittelteil (Übergang) mit Koloraturen zwischen den beiden Arienteilen. Hörbeispiel 4 (Maria Callas): Wir hören in dieser Interpretation scharfe hohe Töne; es kommt zu einem kraftvollen Ansetzen der Töne im Sinne eines attackierenden Toneinsatzes; ein ausgeprägter Unterschied zwischen Tönen im Kopf- und im Brustregister ist festzustellen. Hörbeispiel 5 (Anna Netrebko): In dieser Interpretation von Anna Netrebko hören wir durchwegs dunklere Töne als im vorigen Beispiel; der weiche Ansatz der Töne wird verbunden mit mehr gebundenem Toneinsatz; außer- dem erfolgt ein merkbarer Ausgleich zwischen Tönen im Kopf- und im Brustregister. 1.1.3 Hörbeispiel 4 (Maria Callas): Maria Callas singt mit intensivem Ausdruck ohne Schonung der Stimme; es erfolgen abrupte Wechsel in Dynamik und Stimmregister; dadurch ist die musikalische Gestaltung brüchiger und här- ter. Hörbeispiel 5 (Anna Netrebko): Anna Netrebkos gebundene Tongebung lässt den dramatischen Ausdruck verflachen; eine saubere und ausgeglichene Stimmführung stehen bei ihr im Vordergrund; die musikalische Gestaltung ist stimmlich homogener auf Kosten des dramatischen Effekts. Damit kommt diese Interpretation dem Stil des Belcanto am nächsten. Verwendete Vokalstile in beiden Beispielen sind Belcanto und Koloratur. Belcanto ist der aus der italienischen Operntradition des 18. Jahrhunderts hervorgegangene Gesangsstil, der auf Klangschönheit (ital. „bel canto“ = schöner Gesang) ausgerichtet ist. Weiters wird maximale Beweglichkeit der Stimme gefordert, um reiche Verzierungen und schnelle Koloraturen singen zu können. Alle Stimmregister bzw. Resonanzbereiche werden harmonisch aufeinander abgestimmt. Koloratur bezeichnet eine virtuose Führung oder Verzierung der Gesangs- stimme durch Läufe, Figuren, große Intervalle und Verzierungen aller Art (wie z.B. Vorschläge, Triller, Mordent, usw.) 1.1.4 Kopfregister: Die Töne werden auf den Vokal „i“ in möglichst hoher Stimmla- ge gesungen, z.B. mit dem Text „hi hi hi“. Hinweise zur Tonbildung: Gut ein- atmen, im Ausatmen folgende Kriterien anwenden: lächeln, Mund bzw. Lippen in die Breite ziehen, mit Spannung im Zwerchfell die ausströmende Luft imaginär in den Kopf senden. Brustregister: Die Töne werden auf den Vokal „o“ in möglichst tiefer Stimm- lage gesungen, z.B. mit dem Text „ho ho ho“.Gut einatmen, im Ausatmen folgende Kriterien anwenden: Mund weit öffnen, Kinn fallen lassen, alles mit Lockerheit, eventuell zusätzlich noch die Arme leicht nach vorne heben und (nur!) den Brustbereich anspannen. 1.2 VOM „ZIERRAT“ ZUM „AUSDRUCK“ – VOKALSTILE IN DER OPER 1.2.1 Sopran, Mezzosopran, Alt, Tenor, Bariton, Bass, Countertenor; Koloratur- sopran, Lyrischer Sopran, Hochdramatischer Sopran, Heldentenor, Tenor- buffo, usw. 1.2.2 Hörbeispiel 1 (Händel: „Alcina“): Koloraturarie mit zahlreichen Verzierungen ohne nennenswerte musikalische Berücksichtigung des Textes. Die großen technischen Anforderungen stehen im Vordergrund, ohne differenzierten Ausdruck zu erreichen. Vokalstil ist Koloratur, Stimmlage Mezzosopran. Schnelles Tempo, virtuose Orchesterbegleitung, spannungsgeladene Me- lodik mit Intervallsprüngen und Verzierungen. Hörbeispiel 2 (Gluck: „Orfeo ed Euridice“): Gluck will dem Text wieder Stellenwert geben und verzichtet auf technische Schwierigkeiten zuguns- ten einer Klarheit in der Melodie. Mit einfachsten musikalischen Mitteln wird die Frage nach „Euridice?“ gestellt. Vokalstil ist Belcanto, Stimmlage Sopran oder Mezzosopran (auch Countertenor), die musikalische Gestal- tung ist dem Text angepasst. Ruhiges Tempo und einfache Begleitmuster. Hörbeispiel 3 (Beethoven: „Fidelio“): Rezitativ der Leonore, die ihren Mann aus politisch motivierter Gefangenschaft zu befreien versucht. Sie hat so- eben von einem Mordauftrag erfahren und ist außer sich. Das spiegelt sich in der hochdramatisch geführten Singstimme und in der aufbrausenden Begleitung des Orchesters (Recitativo accompagnato). Vokalstil ist Belcanto mit hochdramatischen Ausbrüchen samt Koloraturen, Stimmlage Sopran, intensivste Umsetzung der Gefühle in musikalische Form. Gehetztes Tempo wechselt mit langsamen Passagen, das Orchester unterstützt die Aus- drucksgestaltung, die Melodie ist dem Text maximal angepasst. Hörbeispiel 4 (Monteverdi: „L’Orfeo“): 1607, eine der ersten Opern der Musik- geschichte, musikalische Floskel als Ausdrucksmittel (Affekte), die Nachricht vom Tod Euridices wird durch einen dissonanten Akkord auf das Wort „morta“ (= „tot“) und den Seufzern Orpheus’ auf das Wort „Ohimè“ (= „Weh mir!“) dargestellt. Hörbeispiel 2 (Gluck: „Orfeo ed Euridice“): 1762, im Übergang zwischen Ba- rock und Wiener Klassik, Klarheit als Hauptprinzip der Gestaltung, um einen „wahrhaftigen“ Ausdruck zu erreichen. Ein melancholischer Grundton ohne starke Schwankungen. Weitere Umsetzungen des Orpheus-Mythos z.B.: 16. Jh.: „Euridice“ von Jacopo Peri ist eine der ersten Opern der abendlän- dischen Musik überhaupt und versucht die Wiederbelebung antiker Theater- kunst. 19. Jh.: Die Operette „Orpheus in der Unterwelt“ von Jacques Offenbach setzt das antike Sujet in parodistischer Weise in Bezug zu aktuellen gesellschaft- lichen Verhältnissen. 20. Jh.: Der Liedermacher Reinhard Mey setzt in einem seiner Chansons ebenfalls Bezüge zwischen antikem Stoff und der Gegenwart. 1.2.4 Tipps zur Ausdrucksgestaltung: „L’Orfeo“: Es handelt sich um eine Todesnachricht. Die erste Frage Orpheus’ ist drängend, fordernd; die Nachricht der Botin soll mit großem Ernst und langsam vorgetragen werden; der Einwurf Orpheus’ ist bereits eine Vorah- nung; die Worte „ist tot“ sind bedeutungsvoller Höhepunkt des Textes; als Schlusspunkt ein verzweifelter Seufzer Orpheus’. „Fidelio“: Beginn in höchster Erregung; dann eine ruhigere Rückbesinnung auf Mitleid und Menschlichkeit; gefolgt von starken Worten, allen Schwie- rigkeiten zu trotzen („Doch toben auch…“); zum Abschluss eine hoffnungs- frohe, fast hymnische Passage voll Zuversicht in freiem Tempo („so leuchtet mir“). | 73 Lösungsansätze Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des 1.2.3 Verlags öbv

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