Treffpunkt Deutsch 4, Leseheft

57 Richtige, dir alles offen zu sagen. Ich hoffe nur, dass du es nicht zu schwer nimmst.“ Und er sagte ihr alles. Es dauerte nicht lange, höchs- tens vier oder fünf Minuten. Sie hörte ihm zu, stumm, wie betäubt, von ungläubigem Entset- zen erfüllt, während er sich mit jedem Wort weiter von ihr entfernte. „Das ist es also“, schloss er. „Ich weiß, dass es nicht gerade die rechte Zeit ist, darüber zu sprechen, aber mir bleibt einfach keine andere Wahl. Natürlich werde ich dir Geld geben und dafür sorgen, dass du alles hast, was du brauchst. Aber ich möchte jedes Aufsehen vermeiden. Ist ja auch nicht nötig. Ich muss schließlich an meine Stellung denken, nicht wahr?“ Ihre erste Re- gung war, nichts davon zu glauben, es weit von sich zu weisen. Dann kam ihr der Gedanke, dass er möglicherweise gar nichts gesagt, dass sie sich das alles nur eingebildet hatte. Wenn sie jetzt an ihre Arbeit ging und so tat, als hätte sie nichts gehört, dann würde sie vielleicht später, beim Aufwachen sozusagen, entdecken, dass nie etwas Derartiges geschehen war. „Ich werde das Essen machen“, flüsterte sie schließ- lich, und diesmal hielt er sie nicht zurück. Als sie das Zimmer verließ, fühlte sie nicht, dass ihre Füße den Boden berührten, sie fühlte überhaupt nichts – bis auf ein leichtes Schwin- delgefühl und einen Brechreiz. Alles lief jetzt automatisch ab. Die Kellertreppe, der Licht- schalter, die Tiefkühltruhe, die Hand, die in der Truhe den ersten besten Gegenstand er- griff. Sie nahm ihn heraus und betrachtete ihn. […] Eine Lammkeule. Nun gut, dann würde es Lamm zum Abendessen geben. Sie umfasste das dünne Knochenende mit beiden Händen und trug die Keule nach oben. Als sie durch das Wohnzimmer ging, sah sie ihn mit dem Rücken zu ihr am Fenster stehen. Sie machte halt. „Um Gottes willen“, sagte er, ohne sich umzudrehen, „koch bloß kein Essen für mich. Ich gehe aus.“ In diesem Augenblick trat Mary Maloney einfach hinter ihn, schwang, ohne sich zu besinnen, die gro- ße gefrorene Lammkeule hoch in die Luft und ließ sie mit aller Kraft auf seinen Hinterkopf niedersausen. Ebensogut hätte sie mit einer 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 eisernen Keule zuschlagen können. Sie wich einen Schritt zurück und wartete. Seltsamer- weise blieb er noch mindestens vier, fünf Sekunden leicht schwankend stehen. Dann stürzte er auf den Teppich. Der krachende Aufprall, der Lärm, mit dem der kleine Tisch umfiel – diese Geräusche halfen ihr, den Schock zu überwinden. Sie kehrte langsam in die Wirklichkeit zurück, empfand aber nichts als Kälte und Überraschung, während sie mit zusammengekniffenen Augen den leblosen Körper anstarrte. Ihre Hände umklammerten noch immer die idiotische Fleischkeule. Na schön, sagte sie sich. Ich habe ihn also getötet. Erstaunlich, wie klar ihr Gehirn auf einmal arbeitete. Die Gedanken überstürzten sich fast. Als Frau eines Polizeibeamten wusste sie ge- nau, welche Strafe sie erwartete. Gut, in Ord- nung. Ihr machte das gar nichts aus. Es würde sogar eine Erlösung sein. Aber das Kind? Wie verfuhr das Gesetz mit Mörderinnen, die un- geborene Kinder trugen? […] Mary Maloney wusste es nicht. Und sie war keineswegs ge- willt, ein Risiko einzugehen. Sie brachte das Fleisch in die Küche, legte es in eine Bratpfanne und schob es in den ein- geschalteten Ofen. Dann wusch sie sich die Hände und lief nach oben ins Schlafzimmer. Sie setzte sich vor den Spiegel, ordnete ihr Haar und frischte das Make-up auf. Sie ver- suchte ein Lächeln. Es fiel recht sonderbar aus. Auch der zweite Versuch missglückte. „Hallo, Sam“, sagte sie laut und munter. Die Stimme klang viel zu gezwungen. […] Sie probierte es wieder und wieder, bis sie zufrieden war. Dann eilte sie nach unten, schlüpfte in ihren Mantel, öffnete die Hintertür und ging durch den Gar- ten auf die Straße. Es war erst kurz vor sechs, und beim Kaufmann brannte noch Licht. „Hallo, Sam“, sagte sie munter und lächelte dem Mann hinter dem Ladentisch zu. „Ach, guten Abend, Mrs. Maloney. Wie geht’s denn?“ „Ich hätte gern Kartoffeln, Sam. Ja, und viel- leicht eine Dose Erbsen.“ Der Kaufmann dreh- te sich um und nahm eine Büchse vom Regal. „Patrick ist heute so müde, dass er keine Lust hat, sich ins Restaurant zu setzen“, erklärte sie. 136 138 140 142 144 146 148 150 152 154 156 158 160 162 164 166 168 170 172 174 176 178 180 182 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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