Treffpunkt Deutsch 4, Leseheft

Umgang mit Texten 56 Ungewöhnlich – Eine Kurzgeschichte Roald Dahl Lammkeule Das Zimmer war aufgeräumt und warm, die Vorhänge waren zugezogen, die beiden Tischlampen brannten – ihre und die vor dem leeren Sessel gegenüber. Zwei hohe Gläser, Whisky und Sodawasser auf dem Büfett hinter ihr. Frische Eiswürfel im Thermoskübel. Mary Maloney wartete auf ihren Mann, der bald von der Arbeit nach Hause kommen musste. Hin und wieder warf sie einen Blick auf die Uhr, aber ohne Ungeduld, nur um sich an dem Ge- danken zu erfreuen, dass mit jeder Minute der Zeitpunkt seiner Heimkehr näher rückte. Eine heitere Gelassenheit ging von ihr aus und teilte sich allem mit, was sie tat. Die Art, wie sie den Kopf über ihre Näharbeit beugte, hatte etwas Beruhigendes. Sie war im sechsten Monat ihrer Schwangerschaft […]. Um zehn Minuten vor fünf begann sie zu lauschen, und wenig später, pünktlich wie immer, knirschten draußen die Reifen auf dem Kies. Die Wagentür wurde zu- geschlagen, vor dem Fenster erklangen Schritte, und dann drehte sich der Schlüssel im Schloss. Sie legte die Handarbeit beiseite, stand auf und ging zur Tür, um ihn mit einem Kuss zu begrü- ßen. „Hallo, Liebling“, sagte sie. „Hallo“, ant- wortete er. Sie nahm seinen Mantel und hängte ihn in den Schrank. Dann machte sie am Büfett die Drinks zurecht – einen ziemlich starken für ihn und einen schwachen für sich –, und bald saßen sie in ihren Sesseln einander gegenüber, sie mit der Näharbeit, während er die Hände um das hohe Glas gelegt hatte und es behutsam hin- und herbewegte, so dass die Eiswürfel leise klirrten. Für sie war dies immer die glücklichste Zeit des Tages. […] Sie selbst genoss es, ruhig dazusitzen und sich nach den langen Stunden der Einsamkeit in seiner Nähe zu wissen. Sie liebte es, sich ganz auf die Gegenwart dieses Mannes zu konzentrieren […]. Sie liebte den angespannten, gedankenverlorenen Blick, mit dem seine Augen oft auf ihr ruhten, die charak- teristische Form seines Mundes und vor allem die Art, wie er über seine Müdigkeit schwieg und still dasaß […]. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 „Müde, Liebling?“ „Ja“, sagte er, „ich bin müde.“ Und bei diesen Worten tat er etwas Ungewöhnliches. Er hob sein Glas und leerte es auf einen Zug, obgleich es noch halb voll war. […] Er beugte sich im Sessel vor, zögerte einen Augenblick, stand dann auf und ging zum Büfett, um sich noch einen Whisky ein- zuschenken. […] Sie nähte mit gesenktem Kopf weiter, aber jedesmal, wenn er das Glas an die Lippen hob, hörte sie die Eiswürfel klir- ren. „Liebling“, begann sie von neuem, „möch- test du etwas Käse essen? Ich habe heute nichts gekocht, weil Donnerstag ist.“ „Nein“, sagte er. „Wenn du zu müde zum Ausgehen bist“, fuhr sie fort, „dann bleiben wir eben zu Hause. In der Kühltruhe ist eine Menge Fleisch und Ge- müse, und wenn wir hier essen, brauchst du gar nicht aus deinem Sessel aufzustehen.“ Ihre Augen warteten auf eine Antwort, ein Lächeln, ein kleines Nicken, doch er reagierte nicht. […] „Ich will nichts.“ Sie rückte unruhig hin und her, die großen Augen forschend auf ihn gerichtet. „Aber du musst doch zu Abend es- sen. Ich kann uns schnell etwas braten. Wirk- lich, ich tu’s gern. […]“ „Ich habe keinen Hun- ger.“ „Aber Liebling, du musst essen! Ich mach einfach irgendwas zurecht, und dann kannst du es essen oder nicht, wie du willst.“ Sie stand auf und legte ihre Handarbeit auf den Tisch neben die Lampe. „Setz dich hin“, sagte er. „Setz dich noch einen Moment hin.“ Erst jetzt wurde ihr unheimlich zumute. „Na los, setz dich hin“, wiederholte er. Sie ließ sich langsam in den Sessel sinken und blickte dabei ihren Mann mit großen, verwirr- ten Augen an. […] „Hör zu“, murmelte er. „Ich muss dir etwas sagen.“ „Was hast du denn, Liebling? Was ist los?“ Er saß jetzt mit gesenktem Kopf da und rührte sich nicht. […]. Sie sah einen kleinen Muskel an seinem linken Augenwinkel zucken. „Dies wird ein ziemli- cher Schlag für dich sein, fürchte ich“, begann er. „Aber ich habe lange darüber nachgedacht, und meiner Ansicht nach ist es das einzig 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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