Treffpunkt Deutsch 4, Leseheft

Für ein Mädchen, das noch nie einen Freund gehabt hatte, war Joschi so etwas wie – wie … Caroline fiel nur das Wort Wunder ein. Joschi sah gut aus, Joschi unterhielt alle, Joschi hatte ein Motorrad – und vor allem: Joschi mochte Caroline! Darüber war Caroline nicht so ver- wundert wie die meisten ihrer Freundinnen. Sie hatte schon immer gewusst, dass eines Tages jemand kommen werde, der ausgerech- net sie, die dünne, blasse Caroline, mochte. Denn statt dünn konnte man auch schlank sagen, statt blass auch zart, statt: „Die hat ja nix zu sagen“, konnte auch einer finden: „Die hört gut zu.“ Aber wenn man in der achten Klasse, in der die meisten Mädchen, nicht nur die Wieder- holer, schon den zweiten oder dritten Freund hatten, noch nicht einmal von dem ersten er- zählen konnte, dann galt man fast als ver- schmäht. Caroline hatte sich nie so gefühlt. Auch ohne Freund war sie immer beschäftigt genug und glücklich gewesen. Aber mit Joschi war es besser. Mit Joschi konnte sie zu Partys gehen […], mit Joschi konnte sie durch die Stadt streifen, Schallplatten in einem Laden anhören und lachend wieder gehen. Mit Joschi erlebte Caroline Szenen, die sie schon oft gese- hen, von denen sie gelesen hatte, von denen sie wusste, dass sie zu den Jahren gehörten, die sie jetzt durchlebte. Erleben, dachte Caroline, durchleben – ja, mit Joschi war es immerzu Leben. LEBEN, in riesigen Buchstaben ge- schrieben, wie man sie an Reklamewänden, auf Plattenhüllen und im Fernsehen sah. Caro- line sah das Bild, das andere von ihnen haben mussten: Sie zart und schlank, er groß und dunkel, beide lachend, gepflegt, voll von Leben und jung – es war perfekt. Und dann Caroline, über Wiesen laufend, ganz langsam in Zeitlu- pe, sodass ihr Blusenkragen sich langsam hob und senkte und ihr Haar ganz weich im Wind schwang, dahinter, halb von ihr verdeckt, Jo- schi, der behutsam nach ihrer Hand griff, im langsamen Laufen … Nein, dieses Bild hatte es noch nicht gege- ben mit Joschi und ihr, sie hatte es anderswo gesehen. Aber es gehörte dazu, das wusste Caroline, und sie würde es noch erleben. Viel- leicht heute noch, auf diesem Ausflug. Zehn Kilometer Landstraße, das schaffte das Motor- rad in etwa fünfzehn Minuten, dann waren sie am Ziel, trafen die anderen zum Picknick, und anschließend … Das Motorrad bockte und riss Caroline un- sanft aus ihren Träumen. Joschi bremste, und hart an der Straßenböschung kamen sie zum Stehen. „Ist was?“, fragte Caroline. „Klar ist was, aber was? Verdammter Ofen!“ Joschi stieg ab und hockte sich vor das Motorrad. „Du wirst es schon wieder hinkriegen“, sagte Caro- line und strich sich die Haare aus der Stirn. „Dein Wort in Gottes Ohr – bloß heute wird er taub sein. Ich habe keine Ahnung. Da kann alles Mögliche kaputt sein.“ Caroline lächelte immer noch. Jungen wie Joschi kannten sich aus. Sie beugte sich über die Böschung und fing an, Gänseblümchen zu pflücken. „Du musst ins nächste Dorf und jemand ho- len.“ Joschi trat auf den Anlasser, aber der Motor sprang nicht an. „Benzin ist noch drin, daran kann’s nicht liegen. Aber was sonst los sein könnte, weiß ich nicht. Schließlich habe ich das Ding erst drei Wochen. […] Los, Caro- line, geh schon!“ „Es sind noch zehn Kilome- ter“, sagte Caroline und pflückte ein paar Blätter zu ihrem Strauß. „Das ist viel zu weit.“ „Nicht laufen – trampen“, sagte Joschi. „Bei Mädchen halten sie eher.“ „Autostopp?“, fragte Caroline ungläubig. „Na klar.“ „Das darf ich nicht“, sagte Caroline. Autostopp gehörte zu den wenigen Dingen, die ihr von zu Hause aus verboten waren, und Caroline sah ein, warum. […] „Autostopp mache ich nie im Leben.“ Joschi hob den Kopf. Er war rot im Gesicht vom Bücken, und die Haare klebten ihm ver- schwitzt in der Stirn. Er sah nicht mehr so gut aus. „Hör zu, das ist eine Notlage. Ich krieg’ die Karre nicht mehr flott.“ „Ich mache keinen 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 Irmela Brender Caroline, über Wiesen laufend 36 Teste dich selbst Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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