Treffpunkt Deutsch 4, Leseheft

mich geschlagen hat, er hat es mir verspro- chen.“ „Und das nächste Mal wird er sein Ver- sprechen vergessen!“ Aus weiter Ferne, so schwach, dass ich es kaum hören konnte, er- tönte das erste Donnergrollen. „Nein, das wird er nicht“, sagte sie ruhig. Sie schüttelte meine Hand ab. „Das wird er nicht.“ Sie wandte sich von mir ab und starrte hinaus auf den See. […] „Ich möchte jetzt gehen“, sagte sie. Ich wusste nicht, was ich noch sagen sollte. Ich ließ sie gehen. Und diesmal war ich es, der sich nicht umdrehte. […] Noch bevor ich am nächsten Morgen die Augen geöffnet hatte, sah ich die Bilder des letzten Abends vor mir und mit den Bildern kam die Wut zurück. Ich musste etwas tun, sonst würde ich verrückt werden. […] Ganz gleich, wie die Konsequenzen aussehen moch- ten, ich würde diesem Ungeheuer von Vater die Meinung sagen, ob es Carla nun passte oder nicht. Sollte er handgreiflich werden, würde ich mit der Polizei drohen. Und ich würde nicht so dumm sein, allein bei ihm auf- zutauchen. […] Bis wir endlich vor dem Haus standen, war mein Pulsschlag bei zweihundert Schlägen pro Minute angekommen. Er setzte aus, als ich bemerkte, dass der weiße Sportwagen nirgends zu sehen war. Der kleine, von nieder- gedrückten Blumen umgebene Wendeplatz war leer. […] Die beiden Burschen dringen in das unver- schlossene Haus ein und stellen fest, dass die Familie nicht abgereist ist. Plötzlich hören sie das Zuschlagen der Haustür . Dann stand Carla vor uns, ein düsterer Engel in schwarzem Pullover und schwarzen Jeans. […] und ihre Stimme war rauer als nor- mal, als sie endlich sprach. „Ich hatte dich ge- beten nicht hierher zu kommen.“ „Ich wollte auch nicht zu dir, sondern zu deinem Vater.“ „Warum?“ „Um mit ihm zu reden.“ Sie schüt- telte unwillig den Kopf. „Es gibt nichts mit ihm zu bereden. Das habe ich dir gestern schon gesagt. […] „Raus“, sagte sie ruhig. „Hör doch mal bitte zu …“ „Ich komme allein klar, vielen Dank.“ „Carla, jemand muss deinen Vater dazu bringen, dich in Ruhe zu lassen! Verdammt, willst du warten, bis er dich tot- geschlagen hat? Willst du das?“ „Ich komm allein klar!“, schrie sie und plötzlich standen Tränen in ihren Augen. […] „Ich brauche kei- nen, der auf mich aufpasst! Ich brauche über- haupt niemanden, also hau endlich ab.“ […] „Carla, hör zu“, sagte ich so ruhig wie möglich. „Du hast Angst! Wenn du willst, dann kannst du mit meiner Großmutter über alles reden. Sie ist in Ordnung. Sie weiß sicher, was man tun kann.“ Carla […] stand im Türrahmen und weinte still und dann sah ich den Aus- druck in ihrem Gesicht, den ich schon am See bemerkt hatte, die oberflächliche Härte und darunter das gehetzte Tier, eine verzweifelte Mischung aus Trotz und Hoffnung, die etwas unsagbar Trauriges hatte. […] „Wirst du kom- men?“ „Ich weiß es nicht. Vielleicht.“ „Wirst du kommen?“ […] Sie überlegte und die wider- sprüchlichsten Emotionen huschten über ihr Gesicht. Dann nickte sie und schloss die Tür. 122 124 126 128 130 132 134 136 138 140 142 144 146 148 150 152 154 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 Merke: Erwartungen können von Auto- rinnen und Autoren auch bewusst enttäuscht werden. Beobachte dich auch selbst beim Lesen. Besprecht, an welcher Stelle sich die Stimmung in diesem Romanausschnitt völlig verändert. Wodurch gelingt es dem Autor, diesen Wechsel besonders drastisch zu gestalten? Überlegt: Welche Erwartungshaltung hat der Autor auf- gebaut? Markiert die Stellen. Dieser spannende Jugendroman erfährt noch eine überraschende Wendung und hat ein offenes Ende. Diskutiert, was ein Roman ohne „Lösung“ bei der Leserin oder dem Leser bewirkt. 1  C 2  B N 3  C 29 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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