Treffpunkt Deutsch 4, Leseheft

Umgang mit Texten Carla versetzt Logo am nächsten Tag. Als er und Arnie über eine Stunde gewartet haben, beschließt Logo, trotz des Verbots zum Haus des Mädchens zu gehen und sie zu suchen. Er sieht durch ein Fenster, dass sie schlafend im Bett liegt und geht enttäuscht nach Hause. Für den Moment beschloss ich das Nach- denken auf später zu verschieben und griff nach dem Krimi. Ich hatte höchstens zehn Seiten darin gelesen, als jemand leise an meine Tür klopfte und ebenso leise eintrat. Im ersten Moment hielt ich sie für einen Geist. […] „Überrascht?“ Das Mädchen schloss die Tür und grinste, als hätte sie einen besonders gu- ten Witz gemacht. „Ziemlich.“ Ich setzte mich auf und versuchte meine sich überschlagenden Gedanken zu ordnen. […] „Freust du dich nicht, dass ich hier bin?“ „Doch, klar, aber … Wo warst du heute Nachmittag? Wir haben auf dich gewartet, Arnie und ich, und als du nicht kamst, bin ich –“ „Es tut mir leid. Aber meine Eltern hatten es sich anders überlegt und woll- ten doch noch Waldenburg besichtigen. Wir sind nach dem Mittagessen losgefahren und als wir zurückkamen, war es schon zu spät.“ „Oh. Verstehe.“ Ich verstand nicht. Ich hatte sie gesehen, wie sie schlafend auf ihrem Bett gelegen hatte. […] „Tut mir wirklich leid! Aber dafür bin ich jetzt hier. Meine Eltern haben einen festen Schlaf, aber falls sie merken, dass ich abgehauen bin, ist die Hölle los. Wir soll- ten also keine Zeit verschwenden.“ „Zeit ver- schwenden?“ Ich war immer noch vollkom- men durcheinander. Sie war so aufgeräumt, so anders, als ich sie bisher kennen gelernt hatte. […] „Dann lass uns gehen.“ „Gehen? Wo- hin?“[…] „An den See.“ „Okay, ich komme mit. […] „Unter einer Bedingung.“ Sie war schon zur Tür gegangen und wartete dort auf mich. „Welche?“ „Dass du mir sagst, wie du heißt.“ „Oh.“ Sie legte den Kopf schräg und lächelte. „Carla. Ich heiße Carla. Und du?“ […] Logo zeigt Carla ein Sternbild und er- zählt ihr die dazugehörige Geschichte der alten Griechen . „Möchtest du noch eine andere …“ „Nein.“ Sie grinste mich an. „Ich möchte schwimmen.“ Das blaue Hemd und die Jeans fielen zu Boden. Innerhalb von Sekunden war sie nackt und mir stockte der Atem. Ihr Körper war ein schlanker weißer Strich gegen den hinter ihr liegenden dunklen See. Sie schien von innen heraus zu glühen. Die langen Haare fielen ihr sanft über die Schultern, hel- ler als der Mond. „Was ist, kommst du?“ […] Sie lächelte mir auffordernd zu. Sie drehte sich um und ging an das Ufer, und als ich die Fle- cken auf ihrem Rücken bemerkte, dachte ich zuerst, es wären Schatten. Dann hatte ich ein Gefühl, als würde mein Körper mit Eiswasser beträufelt, und ich vergaß unsere Nacktheit. Was sich dunkel auf ihrem Rücken abzeichne- te, waren keine Schatten. Es waren Striemen, die wie Schlangen oberhalb der Schulterblätter und längs der Rippenbögen fast parallel zuein- ander verliefen. „Carla“, flüsterte ich rau. Sie zuckte zusammen. Sie blieb stehen und ihre Schultern sackten herab. Ich ging auf sie zu. Sie wehrte sich nicht, als ich meine Finger vor- sichtig über die Haut ihres Rückens gleiten ließ, aber sie erschauerte, als ich die Stellen be- rührte, wo die Striemen geschwollen waren und sich purpurn verfärbt hatten. „Das ist …“ „Ich weiß, was das ist.“ Ihre Stimme klang hart, aber als sie sich umdrehte, sah ich etwas anderes, den Blick eines zu Tode verletzten Tieres. Mein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Sie bückte sich nach ihrem T-Shirt und ihrer Hose und zog sich wieder an. „War es dein Vater?“, fragte ich flüsternd. Sie ant- wortete nicht. Sie knöpfte ihre Jeans zu, riss sich das Band aus den Haaren, schüttelte den Kopf und eine Kaskade blonder Locken ergoss sich über ihre Schultern. „Carla! War das dein Vater?“ „Er hat einen Ledergürtel mit versil- berter Spitze. […] Logo, ich möchte nicht dar- über reden.“ Ich wartete, aber sie sah weiter nach unten. Schließlich legte ich eine Hand unter ihr Kinn und hob es an. „Bitte.“ „Ich will nicht darüber reden!“ „Was soll das heißen?“, stieß ich aus. „Carla, dein Vater misshandelt dich und deine Mutter lässt es zu! Wie kannst du da sagen –“ „Es war das letzte Mal, dass er 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 28 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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