Treffpunkt Deutsch 4, Leseheft

„Was machst du, wenn du allein bist?“ „Hier? Ich schwimme und den Rest der Zeit … Na ja, ich lese ganz gerne. Abends hänge ich dann die meiste Zeit vor dem Fernrohr.“ Und manchmal auch tagsüber um, dich zu beobachten. „Du schwimmst viel, oder?“ „Ja. Zu Hause bin ich in der Schulmannschaft.“ Es war jetzt oder nie. Ich versuchte die Frage so natürlich wie möglich klingen zu lassen. „Was hast du am See gemacht, vorgestern? War das nicht ein bisschen früh für ein Bad, noch dazu in Klamotten?“ Sie blickte so lange auf das Wasser, dass ich befürchtete schon wieder eine falsche Frage gestellt zu haben. „Ich war spazieren“, sagte sie dann, ohne mich anzuschauen. „Ich mag die Ruhe, die morgens am Wasser herrscht.“ Sie machte eine kleine Pause. „Du magst sie auch, oder?“ „Die Ruhe?“ „Warum würdest du sonst Sterne beobachten?“ Ihre Schluss- folgerung war verblüffend, aber mir war nicht entgangen, dass sie damit dem letzten Teil meiner Frage geschickt ausgewichen war. Das verstärkte zwar meine Neugier, aber wenn sie nicht darüber sprechen wollte, wollte ich sie nicht drängen. […] „Ich muss gehen“, sagte sie schließlich. Ich fühlte einen kleinen Stich. Ich wollte nicht, dass sie ging. Ich wollte mit ihr hier am See sitzen bleiben, und dass sie offen- sichtlich nicht denselben Wunsch hatte, ver- ursachte in mir beinahe so etwas wie Panik. „Sehen wir uns noch mal?“, fragte ich. „Ich weiß nicht. […] Meine Eltern hätten bestimmt etwas dagegen…“ „Wir müssen 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 uns ja nicht allein treffen“, erwiderte ich schnell. „Ich kann Arnie mitbringen. Er ist mein Freund, du kennst ihn sicher vom Sehen. Dann könnten wir gemeinsam etwas unter- nehmen, oder?“ Es war nicht das, was ich wollte, aber wenn es der einzige Weg war, sie zu einem Wiedersehen zu bewegen, dann musste es eben sein. Ich fragte mich, wie Arnie reagieren würde. Sie zögerte und überlegte, dann nickte sie. „In Ordnung. Aber kommt nicht zu unserem Haus. Mein Vater … würde das nicht mögen.“ „Heute noch?“ „Nein. Morgen Nachmittag.“ Es war besser als nichts. „Also dann, morgen Nachmittag. Um drei Uhr hier?“ „Ja. Ich freue mich darauf.“ Es war das erste Mal, dass sie lächelte. Sie stand auf und ging, ohne ein weiteres Wort, ohne sich um- zudrehen oder mir noch einmal zuzuwinken. Ich sah ihr nach, bis sie wieder im Wald ver- schwunden war, dann stand ich auf und ging ebenfalls. Ich hatte vielleicht nicht damit gerechnet, auf Wolken zu schweben. Aber genauso wenig hatte ich ein Gefühl erwartet, als bewegte ich mich auf spiegelglattem Eis. Noch mehr als zuvor war das Mädchen mir ein Rätsel. Ihr ganzes Verhalten war undurchschaubar und seltsam und je länger ich über sie nachdachte, desto mehr erschien sie mir wie ein abstraktes Gemälde, auf dem unterschiedliche Farben und Formen sich auf geheimnisvolle Weise zu Schönheit ergänzen, ohne dass man dahinter kommt, was mit dem Bild ausgesagt werden soll. Nach einer Weile fühlt man sich über- fordert und das war exakt der Eindruck, den das Zusammensein mit dem Mädchen bei mir hinterlassen hatte. Ich war ratlos. Erst als ich zu Hause angekommen war, fiel mir ein, dass wir uns beide nicht nach unseren Namen gefragt hatten. 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136 138 140 142 144 146 Sucht Stellen, an denen die Gefühlswelt und Stimmung der Hauptpersonen beschrieben wird. Gibt es Momente, die euch ungewöhnlich erscheinen? Charakterisiere die beiden Hauptpersonen in jeweils fünf bis sechs Sätzen. Überlegt, wie die Geschichte weitergehen könnte. Begründet eure Ideen. Schreibt es auf. 1  B 2  N 3  C N 27 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des V rlags öbv

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