Treffpunkt Deutsch 4, Leseheft

Umgang mit Texten Sommerliebe – Personen charakterisieren, Stimmungen beurteilen Andreas Steinhöfel Trügerische Stille Lobegott Färber, genannt Logo, fährt mit seinen Eltern, seinen drei Geschwistern und der Großmutter in ein Ferienhaus am Walden- see. Als er auf der Fahrt dorthin Carla begegnet, ist er gleich hingerissen von ihr, obwohl sie nur einen kurzen Blick und ein Lächeln ausgetauscht haben. Blonde Haare. Blaue Augen. Ob ich wollte oder nicht, meine Gedanken kehrten in schö- ner Regelmäßigkeit zu dem Mädchen zurück und das brachte mich völlig durcheinander. „Lobegott Färber, du hast dich verliebt“ , flüs- terte ich. Die Worte klangen dramatisch und das gefiel mir genauso gut wie das prickelnde Gefühl, das sie in meinem Bauch auslösten. Aber konnte man sich in jemanden verlieben, mit dem man noch nie ein Wort gewechselt hatte? Noch dazu von heute auf morgen? […] Wenig später trifft Logo das Mädchen am Waldensee wieder. Die Sonnenstrahlen hatten die Felsen noch nicht aufgewärmt. Ich konzentrierte mich auf die Kälte unter meinen Handflächen und versuchte meinen flatternden Herzschlag unter Kontrolle zu bringen. Das Mädchen hat- te mich schweigend durch den Wald geführt und sie schwieg auch jetzt noch, als wir schon eine Weile nebeneinander gesessen und über den See geschaut hatten, der vor uns lag wie ein glattes weißes Leinentuch. Schließlich sagte ich nervös das Erste, was mir in den Sinn kam. „Du … hast ausgesehen wie eine Dryade, als du da zwischen den Bäumen herausgekommen bist.“ Herzlichen Glück- wunsch, Herr Färber! Das war wohl der dümmste Satz, mit dem ich je eine Unterhal- tung begonnen hatte. Ich hatte mir hundert verschiedene Gespräche mit dem Mädchen ausgemalt, aber in keinem hatten griechische Sagengestalten eine Rolle gespielt. „Was ist eine Dryade?“, fragte das Mädchen ruhig. „Eine Baumnymphe.“ Mir blieb nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. „In der Antike glaubte man, dass jeder Baum von einer Nymphe bewohnt wird. Beide sind voneinander abhängig. Wenn die Dryade stirbt, dann geht auch der Baum zu- grunde. Wird der Baum zerstört, endet auch das Leben seiner Bewohner.“ „Woher weißt du solche Dinge?“ Zum ersten Mal sah sie mir direkt in die Augen und ich drückte die Hand- flächen fester gegen den Fels. „Griechische Mythologie. Na ja, eigentlich beschäftige ich mich mit Astronomie. Sterne beobachten, den Mond und solche Sachen, du weißt schon. Die alten Griechen sahen in vielen Sternbildern an den Himmel versetzte Götter und Helden und zu jedem von ihnen gibt es eine Geschichte. Nach einer Weile kennt man sich dann aus.“ „Ah. Das habe ich nicht gewusst.“ „Die meis- ten Leute wissen es nicht. Hey, wir könnten, ich meine, falls es dich interessiert, zeige ich dir mein Fernrohr, ein paar Sternbilder …!“ … nicht zu vergessen die Briefmarkensamm- lung . Mein Gott, ich benahm mich wirklich wie der letzte Idiot! Das Mädchen schaute mich abwartend an. Ich wäre am liebsten im Erdboden versunken und suchte verzweifelt ein unverfängliches Thema. Die beiden erzählen einander von ihren Familien . […] „Es ist schön, eine große Familie zu haben, oder?“, fragte sie, als ich begeistert von den Zwillingen erzählt hatte. Ich zuckte die Achseln. „Es hat seine Vorteile, kann aber manchmal auch ziemlich nerven. Wenn man endlich mal allein sein will, zum Beispiel.“ 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 26 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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