Treffpunkt Deutsch 4, Leseheft

Umgang mit Texten Bei Scharnitz kommt man ins Tirol. Die Grenze ist mit einem Walle geschlossen, der das Tal verriegelt und sich an die Berge an- schließt. Es sieht gut aus: an der einen Seite ist der Felsen befestigt, an der anderen steigt er senkrecht in die Höhe. Von Seefeld wird der Weg immer interessanter, und wenn er bisher, seit Benediktbeuern herauf, von Höhe zu Hö- he stieg, und alle Wasser die Region der Isar suchten, so blickt man nun über einen Rücken in das Inntal, und Inzing liegt vor uns. Die Sonne war hoch und heiß, ich mußte meine Kleidung erleichtern, die ich bei der veränder- lichen Atmosphäre des Tages oft wechsle. Bei Zirl fährt man ins Inntal herab. Die Lage ist unbeschreiblich schön, und der hohe Son- nenduft machte sie ganz herrlich. Der Postillon eilte mehr als ich wünschte: er hatte noch keine Messe gehört und wollte sie in Innsbruck, es war eben Marientag, um desto andächtiger zu sich nehmen. Nun rasselte es immer an dem Inn hinab, an der Martinswand vorbei, einer steil abgehenden ungeheuren Kalkwand. Zu dem Platze, wohin Kaiser Maximilian sich ver- stiegen haben soll, getraute ich mir wohl ohne Engel hin und her zu kommen, ob es gleich immer ein frevelhaftes Unternehmen wäre. Innsbruck liegt herrlich in einem breiten reichen Tale, zwischen hohen Felsen und Ge- birgen. Erst wollte ich dableiben, aber es ließ mir keine Ruhe. Kurze Zeit ergötzte ich mich an dem Sohne des Wirts, einem leibhaftigen Söller. So begegnen mir nach und nach meine Menschen. Das Fest Mariä Geburt zu feiern, ist alles geputzt. Gesund und wohlhäbig zu Scharen, wallfahrten sie nach Wilten, einem Andachtsorte, eine Viertelstunde von der Stadt gegen das Gebirge zu. Um zwei Uhr, als mein rollender Wagen das muntere bunte Gedränge teilte, war alles in frohem Zug und Gang. Von Innsbruck herauf wird es immer schö- ner, da hilft kein Beschreiben. Auf den ge- bahntesten Wegen steigt man eine Schlucht herauf, die das Wasser nach dem Inn zu sen- det, eine Schlucht, die den Augen unzählige Abwechslungen bietet. Wenn der Weg nah am schroffsten Felsen hergeht, ja in ihn hineinge- hauen ist, so erblickt man die Seite gegenüber sanft abhängig, so daß noch kann der schönste Feldbau darauf geübt werden. Es liegen Dörfer, Häuser, Häuschen, Hütte, alles weiß angestri- chen, zwischen Feldern und Hecken auf der abhängenden hohen und breiten Fläche. Bald verändert sich das Ganze: das Benutzbare wird zur Wiese, bis sich auch das in einen steilen Abhang verliert. Zu meiner Welterschaffung habe ich man- ches erobert, doch nichts ganz Neues und Un- erwartetes. Auch habe ich viel geträumt von dem Modell, wovon ich so lange rede, woran ich so gern anschaulich machen möchte, was in meinem Inneren herumzieht, und was ich nicht jedem in der Natur vor Augen stellen kann. Nun wurde es dunkler und dunkler, das einzelne verlor sich, die Massen wurden im- mer größer und herrlicher, endlich da sich al- les nur wie ein tiefes geheimes Bild vor mir be- wegte, sah ich auf einmal wieder die hohen Schneegipfel vom Mond beleuchtet, und nun erwarte ich, daß der Morgen diese Felsenkluft erhelle, in der ich auf der Grenzschneide des Südens und Nordens eingeklemmt bin. Ich füge noch einige Bemerkungen hinzu, über die Witterung, die mir vielleicht eben deswegen so günstig ist, weil ich ihr so viele Betrachtungen widme. Auf dem flachen Lande empfängt man gutes und böses Wetter, wenn es schon fertig geworden, im Gebirge ist man gegenwärtig, wenn es entsteht. Dieses ist mir nun so oft begegnet, wenn ich auf Reisen, Spa- ziergängen, auf der Jagd tag’ – und nächtelang in den Bergwäldern, zwischen Klippen ver- weilte, und da ist mir eine Grille aufgestiegen, die ich auch für nichts anders geben will, die ich aber nicht los werden kann, wie man denn eben die Grillen am wenigsten los wird. Ich se- he sie überall, als wenn es eine Wahrheit wäre, und so will ich sie denn auch aussprechen, da ich ohnehin die Nachsicht meiner Freunde so oft zu prüfen im Falle bin. Betrachten wir die Gebirge näher oder fer- ner, und sehen ihre Gipfel bald im Sonnen- scheine glänzen, bald vom Nebel umzogen, von stürmenden Wolken umsaust, von Regen- 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 22 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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