Treffpunkt Deutsch 3, Leseheft

Umgang mit Texten 56 Die Macht der Natur – Eine Ballade sinnbetont vortragen Gertrud Fussenegger Die Ache Lange haben wir gehaust an der Ache. Hinter unserm Gartenzaun hat das weiß’ und grüne Wasser immer leis gesaust. Wenn die Fenster offen standen in der Nacht, hat uns dieser Ton beruhigt und in Schlaf gebracht. Viele Male sahen wir die Fluten bräunlich schwellen, wenn Gewitter in den Bergen barsten 1 oder wenn die Schmelze aus den Karsten niederritt auf Schaum und Wellen. Aber immer hielt der Damm, und wir lebten mit der Ache wie mit einem Spielgesellen. Zwar der alte Michel aus der Reute warnte, als wir unser Haus erbauten und voll Stolz nach seinem Firste 2 schauten. „Glaubts ihr, sie ist immer so wie heute? Denkts an mich. Ich hab schon viel gesehen.“ „Was denn, Alter?“ – Da ließ er uns stehen und entfernte sich mit seinem Humpelgange. Und wir bauten weiter, zogen ein – und lange ist uns nichts geschehen. Aber neulich nachts – um elfe – Draußen schüttets wie aus Kannen und der Sturm heult wie ein Rudel Wölfe, kommt ein Unbekannter angelaufen, und er schreit: „Packts euch zusammen! Alle weg!“ – Wir rennen an die Tür, riegeln auf – ’s ist niemand hier. Wer da schrie, ist wie ein Spuk davon. Doch jetzt hören wir den Ton, der die Nacht mit seinem Brausen füllt., 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 Brausen, Brüllen, Kollern, Rumpeln, Knicken … näher kommts und näher wie ein Drachenwurm, der die Panzerringe vorwärts schiebt, um uns einzukreisen und uns zu erdrücken. Vater ruft: „Die Ache!“ Mutter jammert: „Jesus, unser Garten!“ und ich denke: Meine kleine Katze! Doch da fährt schon eine schwarze Tatze aus dem Finstern auf uns zu. Was bewegt sich droben auf dem Damm? rennt in Sprüngen, springt in Bogen? strudelt droben auf den Wogen, torkelnd kommts vorbeigezogen, Blöcke, Bäume, eine wilde Hatz 3 von Dingen … Und in diesem Augenblick fühl ich Wasser durch die Schuhe dringen. Meine Katze! denk ich noch einmal. Aber dann ist alles nur noch Rennen, Hin und Her durch Flur und Zimmer, jeder reißt noch was aus Schrank und Betten. Mutter packt den Kleinen. Sein Gewimmer klingt mir jetzt noch in den Ohren, schlimmer noch als Vaters: „Bricht der Damm – Gnad uns Gott! Sind wir verloren!“ Und da kommt’s auch schon in breitem Schwall in den Flur hereingeschossen, knietief, eine dunkle Suppe, jagt zur Stube, stürzt zum Keller – Wirbelnd dreht sich wie ein Teller schon der Strom um unser Haus. 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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