Treffpunkt Deutsch 3, Leseheft

Umgang mit Texten 42 Schwere Entscheidung – Handlungsmotive erkennen und überprüfen „Thank you very much.“ Da streckt die Frau auf einmal die Hand aus und berührt Suriaki an der Schulter. Es ist ein zarter, vor- sichtiger Griff und Suriaki versteht: Sie soll einen Moment warten. „Yes!“, sagt sie. „Yes! Yes!“ Und dann wieder: „Thank you! Thank you very much.“ Die Frau holt Nadir. Erschrocken tritt Su- riaki zurück. Sie erkennt den Hotelportier an seinem schweren Gang. Er ist nicht ihr Feind, hat ihr noch nie etwas getan, trotzdem hat sie Angst vor ihm. Eine Handbewegung von ihm und sie muss ihren Platz räumen. „I’m sorry, Mister! I’m so sorry“, entschuldigt sie sich vor- sichtshalber gleich noch mal, doch das wäre gar nicht nötig gewesen. Der Portier in der Uniform mit den goldenen Achselstücken hat längst begriffen, dass die Frau sich nicht beläs- tigt fühlt. Still hört er zu, was die Fremde sagt, dann räuspert er sich und übersetzt es: „Die Dame will sich bei dir entschuldigen. Sie war in Gedanken ganz woanders und hat nicht aufgepasst.“ Suriaki steht ganz starr. Was Na- dir da eben gesagt hat, ist so unglaublich, dass sie erst mal darüber nachdenken muss. Nicht mal die Eltern haben sich je bei ihr für irgend- was entschuldigt – und nun eine Fremde? Ein Hotelgast? Eine Dame, wie Nadir gesagt hat? Die Frau spricht weiter, und Nadir, der ge- nauso verwundert ist wie Suriaki, antwortet ihr was, bevor er wieder übersetzt: „Du hast Mister zu ihr gesagt. Jetzt will sie wissen, ob du blind bist. Ganz blind bist du noch nicht, habe ich ihr gesagt. Aber sehr viel siehst du nicht mehr. Das stimmt doch, oder?“ Das stimmt. Aber wozu will die Frau das wissen? Ist es denn so schlimm, dass sie Mister zu ihr gesagt hat? Die Frau zögert, dann spricht sie leise weiter. Sie komme aus Deutschland, lässt sie Nadir übersetzen, und heiße Elke Lang. Und nun wüsste sie gern ihren Namen. Nadir kennt Suriakis Namen nicht. Für ihn war sie immer nur das halbblinde Mädchen mit den Süßigkeiten. Als er fragt, wie sie heißt, klingt seine Stimme rau. Suriaki nennt ihren Namen und die Frau wiederholt ihn leise. Dann sagt sie: „Ein sehr schöner Name.“ […] Suriaki erhält von der Dame, die verspricht, am nächsten Tag wiederzukommen, einen sehr großen Geldschein und läuft schnell nach Hause. „Zehn Dollar!“ Der Vater will noch nicht glauben, dass er einen so großen Geldschein in den Händen hält. Er hat noch nie viel Geld verdient und jetzt ist er schon seit anderthalb Jahren arbeitslos. Er verträgt die Seifenlauge nicht mehr […]. Wie soll er da weiter in Li Wangs Wäscherei arbeiten? […] Der Vater streichelt Suriakis Gesicht. „Da hast du heute aber einen sehr guten Tag gehabt, einen, den du bestimmt niemals ver- gessen wirst. Doch jetzt musst du klug sein. Wenn sie wirklich morgen wiederkommt, gibt sie dir bestimmt wieder Geld. Also sei dankbar und erzähl ihr, wie arm wir sind.“ Suriaki nickt strahlend. Sie möchte den Eltern gern noch eine viel größere Freude machen. Der Vater seufzt. „Gutes Kind! Warum musst ausgerechnet du mit einer solchen Krankheit geschlagen sein? Kann mir das jemand ver- raten?“ Suriaki wird am nächsten Tag von ihrem Bruder Suwano begleitet. Die deutsche Dame 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 Klaus Kordon Der Glücksvogel Suriaki, ein indonesisches Mädchen, leidet an einer Augenkrankheit und sieht von Tag zu Tag schlechter. Sie verdient ihren Lebensunterhalt, indem sie in der Stadt vor dem Hotel „Goldener Affe“ „Schokolade! Kaugummi und Bonbons!“ verkauft. Niemand will ihre Waren, aber sie bekommt von den Vorübergehenden kleine Geldgeschenke, mit denen sie einen wichtigen Beitrag zum Lebensunter- halt der Familie leistet. Eines Tages stößt sie mit einer Dame zusammen und alle Waren fallen von ihrem Tablett auf den Boden. Die Dame hilft Suriaki beim Aufsammeln. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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