Treffpunkt Deutsch 3, Leseheft

Umgang mit Texten Gruselgeschichten – Spannung erzeugen […] Dann vernahm ich das Rasseln von Ketten und das Dröhnen massiver Türriegel, die zu- rückgeschoben wurden. Ein Schlüssel drehte sich laut kreischend in dem scheinbar selten benutzen Schlüsselloch, und das große Tor ging auf. Innerhalb desselben stand ein hochgewach- sener alter Mann, glatt rasiert, mit einem langen weißen Schnurrbart und schwarz gekleidet von Kopf bis zu den Füßen; kein heller Fleck war an ihm zu sehen. In der Hand hielt er eine alter- tümliche silberne Lampe, auf der ohne Zylinder oder Schirm eine Flamme brannte, sie warf lan- ge, zitternde Schatten in der Zugluft des offenen Tores. Der alte Mann lud mich durch eine ver- bindliche Geste mit der Rechten ein, näher zu treten und sagte in vorzüglichem Englisch, aber mit einem fremdartigen Accent: »Willkommen hier in meinem Hause! Tre- ten Sie frei und freiwillig herein!« Er machte keine Bewegung, um mir entgegenzugehen, sondern stand starr wie eine Statue, als hätte ihn sein Willkommensgruß in Stein verwan- delt. In dem Augenblick aber, da ich die Schwel- le überschritten hatte, trat er rasch auf mich zu, ergriff meine Hand und drückte sie dermaßen, dass ich zusammenzuckte; dabei war die Hand so kalt wie Eis, mehr wie die eines Toten als eines Lebenden. Dann sagte er: »Willkommen in meinem Hause. Kommen Sie frei herein. Gehen Sie gesund wieder und lassen Sie etwas von der Freude zurück, die Sie mit hereingebracht haben!« Die Stärke des Handdruckes erinnerte mich dermaßen an den eisernen Griff des Kutschers, dessen Gesicht ich ja nicht gesehen hatte, dass ich einen Moment glaubte, er und der Mann, mit dem ich jetzt sprach, seien ein und dieselbe Person; ich fragte also, um sicher zu gehen : »Graf Dracula?« Er verbeugte sich höflich und erwiderte: »Ich bin Dracula und begrüße Sie, Herr Harker, in mei- nem Hause. Kommen Sie herein, Sie bedürfen des Essens und der Ruhe, die Nachtluft ist recht kühl.« Während er so sprach, stellte er die 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 Bram Stoker Dracula (Ausschnitt) Ende des 19. Jahrhunderts reist der Londoner Kanzleiangestellte Jonathan Harker nach Transsilva- nien in Siebenbürgen. Graf Dracula, der dort einsam in einem Schloss haust, hat ihn bestellt, um mit ihm über den Ankauf eines Grundstücks in London zu verhandeln. Harker wundert sich, dass der Schöngeist 1 nur nachts zu sprechen ist. Schaudernd stellt er fest, dass Dracula tagsüber in einem Sarg ruht, Sonnenstrahlen meidet und in einem Rasierspiegel nicht zu sehen ist. Bevor Harker ein ernst- haftes Leid geschieht, flieht er aus dem Schloss des Grafen Dracula und reist überstürzt zurück. Graf Dracula kommt deshalb selbst nach London. Als er Jonathan Harkers Braut Mina sieht, erinnert sie ihn an Elisabeth, seine große Liebe, die im 15. Jahrhundert aus dem Leben geschieden ist. Dr. Seward, dem Leiter einer Nervenklinik in London, fallen bald merkwürdige Veränderungen bei Patienten auf, und er beobachtet mit Sorge, dass Minas Freundin Lucy Westenra erkrankt und von Tag zu Tag blasser wird. Ratlos wendet er sich an seinen früheren Lehrer, Professor van Helsing. Der erfahrene und belesene Theologe und Mediziner kommt bald zu dem Schluss, dass ein Vampir die Ursache ist, und er verbündet sich mit Dr. Seward, Jonathan Harker, Lucy Westenras Verlobtem Lord Godalming, und dessen amerikanischem Freund Quincey Morris gegen ihn. In die von Dracula tagsüber als Ruhestätten benutzten Särge legen die Verschworenen geweihte Hostien, und sie hängen Knoblauchknollen ebenso wie Kreuze auf. Lucy ist schon nicht mehr zu retten: Um sie von ihrem schrecklichen Dasein als Untote zu erlösen, wird ihr ein Pfahl durchs Herz getrieben. Eilig kehrt Graf Dracula nach Transsilvanien zurück, um seinen Verfolgern zu entgehen. Aber die beherzten 2 Männer stellen ihn vor seinem Schloss und pfählen ihn. Sein Ende empfindet Graf Dracula als Erlösung von einem Fluch, der ihn vierhundert Jahre lang am Sterben gehindert hat. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 1 Schöngeist = Kunstliebhaber   2 beherzten = mutig 36 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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