Treffpunkt Deutsch 3, Leseheft

IV. Akt Gerichtssaal auf dem freien Festland. Saal zunächst im Dunkeln. Vorn auf der Bühne der leere Verkaufsstand der Boulevardzeitung Lupe. Ein Bote bringt einen Packen der neuesten Ausgabe. Er heftet ein Exemplar mit Tesa-Film an die Vorderfront des Ständers. Die fett gedruckte Schlagzeile gut zu lesen: Bretter vor der Stirn? Dem Menschen fehlt das Hirn!! Dann wird der Gerichtssaal blitzartig erhellt. Richter, Staatsanwalt und Verteidiger nehmen ihre Plätze ein. Einige Pressefotografen warten auf den Angeklagten. Als dieser hereingeführt wird, folgt Blitz auf Blitz. Der Richter klatscht in die Hände und weist stumm auf die Tür. Die Fotografen verlas- sen den Saal. Der Angeklagte setzt sich. Aus der Kulisse laut ein Sprechchor von Demonstranten Kaputter Holzexport ist Arbeitsplätzemord! – wird zweimal wiederholt – RICHTER Angeklagter, verstehen Sie mich? FREMDER Wie meinen Sie das? RICHTER Spricht betont deutlich, wobei er langsam seine Worte im Mund formt, als hätte er einen Taubstummen vor sich, was die Zuschauer als Grimassen sehen und Heiterkeit auslöst Können Sie jedes Wort aus meinem Munde vernehmen? FREMDER Äfft die Grimassen nach Nicht nur vernehmen, ich verstehe sie sogar. RICHTER Sollten Sie trotzdem Schwierigkeiten haben, ein Dolmetscher steht bereit. FREMDER Was soll das, Herr Richter? Ihre Sprache ist auch die meine. Wenn ich sie trotzdem nicht verstehen sollte oder umgekehrt, dürfte das andere Gründe haben. RICHTER Zum Beispiel? FREMDER Es könnte sein, dass wir dieselben Wörter wählen, aber trotzdem nicht diesel- be Sprache sprechen. RICHTER Das verstehe ich nicht. FREMDER Was ich befürchtet habe. RICHTER Angeklagter, ich meine es gut mit Ihnen. Aber Sie scheinen Gefallen daran zu finden, Gott und die Welt zu provozieren. Auch das Gericht … Verteidiger flüstert dem Fremden was ins Ohr. Dieser legt einen Finger auf den Mund, bevor er demonstrativ die Arme vor der Brust verschränkt VERTEIDIGER Herr Richter, mein Mandant hat in einem, sagen wir, fremden Land ein Ge- richt erlebt, das es nicht so gut mit ihm meinte wie Sie, Herr Vorsitzender. RICHTER Danke. Aber belehren Sie ihren Mandanten, bitte, dass er sich in einem freien Land mit unabhängiger Justiz befindet. FREMDER Leise zum Verteidiger … die zwar kein Brett vor dem Kopf trägt, aber eine Binde vor den Augen. RICHTER Der gehört und verstanden hat Herr Verteidiger, Ihr Mandant sollte auch über das Symbol der verbundenen Augen aufgeklärt werden. Sagen Sie ihm, dass die Justiz in diesem Land nicht mit Blindheit geschlagen ist. VERTEIDIGER Herr Richter, mein Mandant … RICHTER Schon gut, Herr Verteidiger. Angeklagter, Sie werden beschuldigt, einen befreundeten Staat beleidigt zu haben. Bitte, äußern Sie sich dazu. FREMDER Geht zum Richter, der ist sehr überrascht Sie gestatten, Herr Richter, fährt diesem übers Kinn Herr Vorsitzender, ich habe mich überzeugt, dass Sie ein Mann mit männ­ lichem Bartwuchs sind. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 Diktator, Ideologie und Euphemismus – Den Gehalt eines Dramas erschließen 31 Nur zu Prüfzw cken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=