Treffpunkt Deutsch 2, Leseheft

Umgang mit Texten Übermut tut selten gut – Genau lesen und Vermutungen anstellen Nach den Gebrüdern Grimm Die Irrfahrten des Odysseus – Bei den Kyklopen Odysseus landete auf der Heimfahrt von Troja mit seinen Gefährten auf einer Insel. […] Odysseus und seine Gefährten gingen an Land, um nach den Bewohnern der kleinen Insel zu suchen. Wie sie so umherstreiften, entdeckten sie plötzlich eine große Höhle. In der Höhle lagen Schaf- und Ziegenmist, einige Ackergeräte und Decken. So schlossen die Griechen, dass hier der Hirt für sich und seine Herde eine Lagerstätte aufgeschlagen habe. Und sie beschlossen, in der Höhle zu bleiben und auf den Hirten zu warten. Als es Abend wurde und die Dämmerung auf die saftigen Wiesen und die Obstbäume fiel, wurde plötzlich vor dem Höhleneingang ein riesiger Schatten sichtbar. Erschrocken flo- hen Odysseus und die Seinen in die äußerste Ecke der Höhle. Da betrat ein Riese die Höhle, der so groß war wie drei von ihnen, mit zotti- gen Armen und Beinen, einem wulstigen Mund und einer unförmigen Nase. Das Furchtbarste aber an ihm war sein Auge: er besaß nur eins und es saß mitten auf der Stirn. Dieses Scheusal betrat die Höhle und trieb Schafe und Ziegen herein. Es melkte die Tiere und schlürfte mit Behagen die Milch. Dann legte es sich behaglich grunzend nieder, nach- dem es vorher den Höhlenausgang mit einem großen Stein, den ein Mensch niemals hätte bewegen können, geschlossen hatte. Odysseus und die Seinen wagten kaum zu atmen. Wie sollten sie je die Höhle wieder ver- lassen? Und was geschah, wenn das fürchter- liche Ungetüm sie entdeckte? Und tatsächlich: Plötzlich erhob sich der Riese halb, stützte sich auf seine groben Ellen- bogen und begann mit seinen Nüstern zu schnuppern. „Es riecht hier so komisch“, mur- melte er vor sich hin. […] Und er wandte sein zottiges Haupt ringsum und entdeckte die Griechen. „Hoho“, rief er, „Menschlein, sieh einer an! Seeräuber wohl. Was?“ Da trat Odysseus furchtlos vor, beugte ein Knie vor dem Riesen und sagte: „O mächtiger Riese, wir sind keine Seeräuber, Griechen sind wir und kommen von Trojas Gestade. Nimm uns gnä- dig auf, beachte das Gastrecht, dass nicht die Götter dir zürnen.“ Da begann der Riese laut und schauerlich zu lachen und rief: „Du bist gut! ‚Die Götter dir zürnen‘ – Weißt du nicht, dass wir Ky- klopen viel mehr sind als die Götter? Wir kön- nen tun und lassen, was wir wollen. Aber sag mal, du Winzling, wo habt ihr denn euer Schiff?“ „Das liegt …-“, wollte Odysseus be- ginnen, aber dann besann er sich schnell. „Es ist uns zerschellt“, antwortete er listig dem Ky- klopen. „Deswegen ja gerade sind wir auf deine Gastfreundschaft angewiesen.“ „Zerschellt, sagst du, du Winzling? Zer- schellt ist gut. Da könnt ihr ja in Ruhe meine Gastfreundschaft genießen.“ Und er lachte wieder sein schreckliches, lautes, abstoßendes Lachen. Gleichzeitig griff er zwei von den Griechen, nahm sie in seine Hände und schlug sie mit den Köpfen so lange gegen den Boden, bis ihre Schädel zertrümmert waren. Dann legte er sich auf seine Decke nieder und be- gann die beiden Gefährten des Odysseus unter großem Behagen und wohligem Schmatzen zu verzehren. Nach beendetem Mahl trank er noch einen Schluck Milch – dann streckte er sich vollends nieder und schlief ein. Mit starrem Entsetzen hatten Odysseus und die Übrigen gesehen, was mit ihren beiden Ka- meraden geschah. Kaum waren sie sicher, dass der Riese schlief, da zückte Odysseus sein Schwert, trat neben das Ungeheuer und suchte nach einer Stelle zwischen Leber und Zwerch- fell, wo er ihn tödlich treffen könnte. Er fand die Stelle und wollte zustechen. Im letzten Augenblick hielt er inne. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 Erkläre kurz, warum Odysseus die Frage nach den Schiffen nicht wahrheitsgemäß beantwortet. Besprecht in der Klasse, warum Odysseus den Riesen Polyphem nicht töten kann. 1  2  C 46 Nur zu Prüfzwecken – Eige tum des Verlags öbv

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