Treffpunkt Deutsch 2, Leseheft

Umgang mit Texten Der Beginn einer Freundschaft – Inhalte darstellen und Fortsetzungen schreiben Klaus Kordon Qualle Ingos Eltern sind gestorben. Er kommt in ein Heim, wo er von allen freundlich aufgenommen wird. Am selben Tag wie Ingo erscheint auch Manuel. Manuel ist dick und sehr still. Kaum dass er da ist, wird er schon von den anderen Jungen gehänselt, sie geben ihm den Spitznamen „Qualle“. Vor allem Jan und Kurtchen haben großen Spaß daran, Manuel zu ärgern; mit diesen beiden müssen sich Ingo und Manuel einen Schlafraum teilen. Jan und Kurtchen stehen leise auf. Sie gehen an einen der Schränke und holen etwas. Dabei kichern sie. Ingo beißt sich auf die Lippen. Er wird sich nichts gefallen lassen, überhaupt nichts! Lachen, Prusten! Jan und Kurtchen haben sich auf Manuel gestürzt und stellen irgendetwas mit ihm an. „Was macht ihr denn da?“, fragt Ingo vorsichtig. „Halt die Klappe, oder wir legen dich daneben“, zischt Jan. Dann macht er weiter. Von Manuel kommt kein Laut. Auch als Jan und Kurtchen von ihm ab- lassen, ist nichts zu hören. […] Ingo erwacht. Es ist hell in dem Zimmer. Er richtet sich auf, schaut zu Manuel hinüber und erschrickt: Manuel ist gefesselt, über und über mit Schnüren an sein Bett gefesselt! Und er schläft nicht, er liegt da und starrt mit trocke- nen, roten Augen an die Decke. Nach dem Frühstück zeigen Jan und Kurt- chen Ingo und Manuel das Heimgelände. Frau Herbig hat sie damit beauftragt. Die vier Jungen gehen über den Spielplatz, den Fußballplatz, um die Schule und um die Turnhalle herum. Jan und Kurtchen zeigen Ingo und Manuel den Fernsehraum und den Kiosk, in dem die Kinder sich Süßigkeiten, Ansichtskarten und Briefmarken kaufen kön- nen. Über die vergangene Nacht verlieren sie kein Wort. Genau wie am Morgen, als sie die Schnüre lösten, um sie wieder aufzurollen und in ihre Schränke zu tun. Zum Schluss zeigen Jan und Kurtchen Ingo und Manuel noch die kleine Schonung 1 . Sie sagen, dass man sich im Sommer zwischen den halbhohen Kiefern gut verstecken könne. Und sie lachen dabei, als hätten sie die tollsten Erinnerungen an den Sommer und die Schonung. Ingo und Manuel hören sich alles an und lassen sich alles zeigen. Ingo fühlt sich nun noch fremder in dem Heim als tags zuvor. Dass Jan und Kurtchen so grausam sein konn- ten, Manuel die ganze Nacht über an sein Bett gefesselt liegen zu lassen, kann er nicht verste- hen. […] Wenn sie das mit ihm gemacht hätten, er wäre nicht mit ihnen herumgewandert wie jetzt Manuel, denkt Ingo. Er hätte irgendeinen Entschluss gefasst. Nur welchen, weiß er nicht. […] Es ist Nachmittag. Ingo geht allein über das Gelände. […] Vor der kleinen Schonung bleibt er stehen. Wenn jetzt Sommer wäre, würde er sich tatsächlich zwischen den Kiefern verkrie- chen. Dann wäre er allein für sich, könnte heulen oder träumen oder ... Ein Geräusch! Es hörte sich an, als ob ein Stoff zerrissen wäre. Ingo schiebt sich vorsichtig zwischen den dicht stehenden Bäumen hindurch und späht in die Schonung hinein. Der Zaun. Weiter geht es nicht. […] Auf der anderen Seite des Zaunes steht Manuel und betrachtet den zerrissenen Ärmel seiner Jacke. Ein Fetzen des blauen Stoffes hängt noch am Zaun. „Wo willst du hin?“ Manuel erschrickt und starrt Ingo an. Dann schreit er: „Lass mich in Ruhe! Geh fort!“, und hastet zwischen den Kiefern hindurch vom Zaun fort. Ingo überlegt nicht lange. Er klet- tert über den Zaun und folgt Manuel, bis er ihn eingeholt hat. „Wo willst du hin?“, fragt er 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 1  Schonung = Neubepflanzung des Waldes 34 Nur zu Prüfzw cken – Eigentum des V rlags öbv

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