Treffpunkt Deutsch 2, Leseheft

Umgang mit Texten Alte Weisheiten in neuem Gewand – Eine moderne Fabel kennenlernen James Thurber Was dem Ackergaul Karl widerfuhr Ein Ackergaul namens Karl wurde eines Tages von seinem Besitzer in die Stadt zum Huf- schmied gebracht. Niemand auf dem Gutshof hätte davon Notiz genommen, wäre nicht Eva gewesen, eine Ente, die sich dauernd vor der Küchentür des Wohnhauses herumdrückte, neugierig lauschte und alles, was sie hörte, falsch verstand. Die anderen Tiere sagten von ihr, sie habe zwei Schnäbel, aber nur ein Ohr. Karl wurde also weggeführt, um beschlagen zu werden, und wenig später lief Eva laut quakend im Hof umher. Aufgeregt erzählte sie ihren Gefährten, dass man Karl in die Stadt ge- bracht habe, um ihn zu erschlagen. „Sie haben ein unschuldiges Pferd getötet!“, rief Eva. „Er ist ein Held! Ein Märtyrer! Er ist für unsere Freiheit gestorben!“ „Er war das wunderbarste Pferd der Welt“, schluchzte eine sentimentale Henne. „Na, für mich war er einfach der alte Karl und weiter nichts“, sagte eine realistisch den- kende Kuh. „Müsst ihr denn gleich so rührselig werden?“ „Er war unübertrefflich!“, schrie eine leicht- gläubige Gans. „Wann und wo hat er sich denn hervorge- tan?“, fragte eine Ziege. Eva, der es zwar an Sinn für Genauigkeit, nicht aber an Erfindungsgabe mangelte, ließ ih- re lebhafte Fantasie spielen. „Es waren Schläch- ter, die ihn weggeführt haben, um ihn zu er- schlagen“, kreischte sie. „Wenn Karl nicht gewesen wäre, hätten sie uns alle im Schlaf um- gebracht.“ „Ich habe keine Schlächter gesehen, und dabei kann ich in stockfinsterer Nacht ein ausgebrann- tes Glühwürmchen sehen“, sagte eine Eule. „Ich habe auch keine Schlächter gehört, und dabei kann ich eine Maus über Moos laufen hören.“ „Wir müssen ein Denkmal für Karl den Gro- ßen bauen, für unseren Lebensretter“, schnat- terte Eva. Und alle Vögel und Tiere auf dem Gutshof – ausgenommen die weise Eule, die skeptische Ziege und die realistisch denkende Kuh – machten sich daran, ein Denkmal zu er- richten. Sie hatten gerade mit der Arbeit ange- fangen, als der Bauer die Straße entlangkam. Er führte Karl am Halfter, und die neuen Hufeisen schimmerten im Sonnenlicht. Es war ein Glück, dass Karl den Hof nicht al- lein betrat, denn sonst wären die Tiere vermut- lich mit Knüppeln und Steinen über ihn herge- fallen, weil er durch seine Rückkehr den Mythos vom heldenhaften Karl zerstörte. Es war auch ein Glück, dass sich die Eule schleu- nigst auf die Wetterfahne der Scheune geflüch- tet hatte, denn niemand ist verhasster als derje- nige, der es besser gewusst hat. Die sentimentale Henne und die leichtgläubige Gans lenkten schließlich die Aufmerksamkeit auf die wahre Schuldige, auf Eva, die Ente mit zwei Schnäbeln und einem Ohr. Alle fielen über sie her und teerten und entfederten sie, denn niemand ist unbeliebter, als der Überbringer von Trauerbotschaften, die sich später als falsch erweisen. Moral: Entweder hör’ dreimal hin oder halte den Mund; voreilige Schlussfolgerungen sind ungesund. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 22 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des V rlag öbv

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