Treffpunkt Deutsch 4, Schulbuch

Direkt oder indirekt – Arten der Charakterisierung kennen Umgang mit Texten und Medien Sprechen und Zuhören Marlene Röder Im Fluss Mia ist mit ihren Eltern aus der Stadt in ein Dorf auf dem Land gezogen. Auf ihrem ersten Erkundungsweg trifft sie auf eine Gruppe von Jungs, darunter Alex, der Sohn der neuen Nachbarsfamilie. […] Darum bemerkte ich die fünf Jungs erst, als ich bereits auf der Mitte der Brücke ange- kommen war. Sie saßen auf dem Geländer, tranken Bier und spuckten in die Strömung. Am liebsten hätte ich umgedreht, aber jetzt einen Rückzieher zu machen, hätte feige ausgesehen. Also lehnte ich mich mit dem Rücken zu ihnen gegen das Geländer und zündete mir eine Zigarette an. Ich unterdrück- te einen plötzlichen Hustenreiz, während ich den Rauch durch die Nasenlöcher ausblies. Ganz locker, Mia … Doch ich konnte spüren, dass die Kerle mich angafften, als hätten sie noch nie ein weibli- ches Wesen gesehen. Besonders viele bleich geschminkte Mädchen mit dunkel umrandeten Augen in schwarzen Samtklamotten liefen hier bestimmt nicht rum. Mir gab dieses Outfit irgendwie ein Gefühl von Sicherheit: als würde ich ein Vampirkos- tüm tragen, das mich unverwundbar macht. Wer traut sich schon an so eine Monsterbraut ran?! Höchstens ein blöder Hund, denn die meisten Menschen gucken erst auf die Verpackung, nicht auf das, was drinsteckt. Ein Grundsatz aus der Werbepsychologie, über den mein Vater regelmäßig dozierte. Heute schützte mich meine Verkleidung nicht. Die Blicke der Jungs klebten an meinem Körper wie Spinnweben. Am liebsten hätte ich die ganze Bande vom Geländer geschubst und zugesehen, wie sie im Wasser zappelten wie übergroße Insekten … Natürlich tat ich nichts dergleichen. Statt- dessen versuchte ich ihr Starren zu ignorieren. Die Sonne glitzerte auf dem Wasser, mir war ein wenig schwindelig. „Du bist neu hier, oder?“, fragte einer der Jungs schließlich und unterbrach damit die unangenehme Stille. Ich musste mich wohl oder übel umdrehen. Aha, das war also der Häuptling der Einge- borenen! Er sah eigentlich nicht schlecht aus: drahtige, sportliche Figur und braune Locken. Ich schätzte ihn auf etwa achtzehn. Irgendwie kam mir der Typ bekannt vor, da war was mit seinen Augen … Hellblaue Augen, die im Sonnenschein plötzlich aufblitzten. Dieselben Augen wie die der alten Frau im Garten! Ob sie seine Großmutter war? „Ich glaube, wir sind Nachbarn“, sagte er. „Mein Bruder Jan“ – dabei deutete er mit dem Kinn auf einen schlaksigen Typ mit schulter- langen hellen Haaren, der aussah, als würde er gleich vom Geländer kippen – „und ich haben euch heute Morgen beim Ausladen gesehen.“ In der nachfolgenden Stille taxierten wir uns gegenseitig. Vermutlich sollte jetzt der Teil kommen, in dem ich mich freundlich vorstell- te, erzählte, aus welcher Stadt es mich hierher- verschlagen hatte und so weiter. Aber ich schwieg. Ich hatte nicht mit seiner Hartnäckigkeit gerechnet. „Ich bin übrigens Alex. Alex Steinflösser“, sagte er und hielt mir die Hand hin. Die altmodische Begrüßung verblüffte mich so, dass ich sie automatisch erwiderte. Sein Händedruck war warm und fest. Ich ließ schnell wieder los. „Und wie heißt du?“ Der Typ hatte eindeutig zu viel Selbstbewusst- sein. Ich blies ihm Zigarettenrauch ins Ge- 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 32 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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