Treffpunkt Deutsch 3, Sprachbuch

Was wäre, wenn …? – Den Konjunktiv II richtig gebrauchen Umgang mit Texten Nachdenken über Sprache Renate Welsh Ende gut, gar nichts gut (Ausschnitt) August horchte in die Küche hinaus. Vor ihm lag ein aufgeschlagenes Vokabelheft. Die Mutter klapperte immer noch mit Tellern und Töpfen. Warum ging sie nicht endlich hinunter? Um diese Zeit stand sie sonst längst hinter dem La- dentisch. to behave – behaviour . Er las automa- tisch. Die Wörter ergaben keinen Sinn, waren aneinander gefügte Laute. to have – haben. to be – sein. Warum hieß dann behave sich beneh- men, verhalten? Er begann, Bleistifte zu spitzen. Lange braune Locken ringelten sich bis in den Papierkorb. Die Minen brachen immer wieder ab. Er spitzte weiter. Konstantin wartete auf ihn. Wasser rauschte. Eine Schranktür klemmte, wie immer; er hörte, wie die Mutter daran rüttelte, hörte leises Klirren. Endlich steckte sie den Kopf herein. „Ich geh jetzt. Denk daran, dass du morgen Englischschularbeit hast. Lies wenigs- tens alles noch einmal durch, am besten laut, dann behältst du es besser.“ „Ja, Mama.“ Sie lä- chelte ihm zu. Ihre Absätze klapperten im Treppenhaus. Die Hintertür zum Laden fiel zu. August wartete noch einen Augenblick: Vor- gestern war sie zurückgekommen, weil sie ihr Taschentuch vergessen hatte. Er holte den Plastikbeutel mit den Schul- broten unter dem Schreibtisch hervor, ging in die Küche, packte zwei Stück Kuchen ein, Bananen, Äpfel, zwei Müsliriegel, eine dicke Schnitte Brot. Er wischte die Krümel mit dem Handrücken weg. Schokolade! Konstantin hatte Schokolade verlangt. Es gab keine in der Lade. August ging ins Zimmer, suchte in der Anrichte. Eine Kerze fiel heraus, rollte über den Boden. August lief in die Küche zurück, nahm einen Becher Fruchtjogurt aus dem Kühlschrank. Ob er auch Marmelade aus der Speisekammer holen sollte? Es war schon so spät. Zwei Uhr, hatte Kon- stantin gesagt. Es war fast drei. August schloss die Wohnungstür leise, schlich die Treppe hinunter, ging an den Müll­ eimern vorbei zum Hinterausgang, lief knapp an der Mauer entlang durch den Hof, erschrak kaum, als der Rottweiler des Nachbarn wütend am Zaun hochsprang und laut bellte, rannte die Gasse hinauf bis zum Bahndamm. Er kletterte auf die Böschung, blieb einen Augenblick ste- hen, atmete tief durch und blickte die Gleise entlang. Er hetzte über die Schienen, bog in den Weg ein, der zum Zaun des Baustofflagers führ- te, vorbei am Schrottplatz und an drei Lager- häusern, zwischen denen Kamillen und Huflat- tich wuchsen. August zählte die Zaunlatten. Die Neunzehn- te von links war locker, ließ sich leicht hochhe- ben über den Nagelköpfen und zur Seite drehen wie ein Eisenbahnsignal. Hinterher konnte man sie vorsichtig wieder einhängen, und niemand sah, dass da etwas bewegt worden war. August zwängte sich durch die enge Öff- nung. Er pfiff die ersten vier Töne von „ Blowing in the wind …“ Nun hätte Konstantin weiterpfeifen müssen. So hatten sie es besprochen. Etwas raschelte im hohen, trockenen Gras. August ging ein paar Schritte vor und sah sich um. Ein Vogel flog auf. August pfiff noch einmal. Der graue Himmel blendete, die Luft über den Büschen flirrte. War Konstantin nicht mehr da? Hatten sie ihn erwischt? Lauerte jetzt jemand auf ihn, dort hinter den Betonrohren? Das harte Gras stach durch die Sandalen in seine Füße. Hatte sich da etwas bewegt? August wich einen Schritt zurück. Aber wenn Konstantin doch da war? Wenn er verletzt war? August spitzte die Lippen, brachte aber kei- nen Ton heraus. Er zwang sich, vorwärts zu ge- hen, auf die Betonrohre zu. Nach jedem Schritt blieb er stehen, blickte sich um. Seine Augen brannten. Ein Flugzeug dröhnte. Jemand packte ihn an der Hand. Er schrie auf. […] 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 36 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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