Treffpunkt Deutsch 3, Sprachbuch

Befreit und abgelegt – Einen Text genau lesen und verstehen Sprechen und Zuhören Umgang mit Texten Gina Ruck-Pauquèt Das Kapuzenmäntelchen Es ist Winter gewesen, als Angela in die Klasse gekommen ist. Sie ist vorne beim Lehrer gestan- den, klein und dünn und in dem Kapuzenmän- telchen, und der Lehrer hat gesagt, sie heiße Angela. Und dann hat er noch gesagt, dass sie mit ihrer Mutter neu in die Stadt gezogen ist und dass sie nun zu uns gehört. Man hat nicht viel von ihrem Gesicht sehen können, weil sie ja die blöde Kapuze aufgehabt hat. Aber auch als sie sie abgenommen hat, ist da nicht viel zu se- hen gewesen. Es ist so ein Gesicht gewesen, an das man sich nicht erinnert. Und die Haare sind nicht braun und nicht blond gewesen und schwarz schon gar nicht. Und sie sind auch nicht lang gewesen und nicht kurz. Der Lehrer hat ihr gezeigt, wo ein Platz frei war. Und das ist neben mir gewesen. Die Angela war mir sofort völlig gleichgül- tig, und das ist auch so geblieben. Ich glaube, dass sie ziemlich schüchtern war, und ich hab sie nicht angesprochen. Als Schülerin war sie „so lala“, nicht dumm, aber auch nichts Beson- deres. Und wenn sie gefragt wurde, stand sie immer gleich auf, und geantwortet hat sie im- mer sehr leise. Sie sprach ein bisschen anders als wir. Aber das war nicht so auffallend. Ich glaube auch, dass sie sich bemüht hat, es nicht merken zu lassen. Sie war in keiner Hinsicht bemerkenswert, die Angela, wirklich überhaupt nicht. Und es wäre ja auch alles gut gewesen, wenn sie nicht dieses dämliche Kapuzenmäntelchen getragen hätte. Es war so ein Lodenmäntelchen, grün- grau. So was trägt bei uns keiner. Vorne waren vier Hornknöpfe dran, und wenn nasses Wetter war, konnte man den Loden riechen. Nicht dass er miefte, nein, er roch, wie eben Loden riecht. Also wie gesagt, als sie kam, war Winter, und da fiel das ja nicht weiter auf. Aber dann im Frühjahr, die ersten Blumen haben schon ge- blüht, da hatte sie das Ding immer noch an. Lo- denmäntelchen und Kapuze hoch, so kam sie morgens in die Schule. Es hat wirklich komisch ausgesehen. Und auf einmal, an einem Montagmorgen, da haben sie alle losgebrüllt vor Lachen. Wie auf Verabredung. Es war nichts vorausgegan- gen, als dass der Fridolin „huch“ gesagt hatte. Einfach so „huch“ und alle haben geschrien. Ich bin nicht mal sicher, ob die Angela das damals mitgekriegt hat. Vielleicht schon. Sie hat das Mäntelchen aufgehängt und sich neben mich gesetzt wie immer. Aber von dem Tag an ist es losgegangen. Sie haben sie „das Kapuzen- mäntelchen“ genannt. „Ja wo ist denn unser kleines Kapuzenmän- telchen?“, haben sie gerufen, so dass sie es hören musste. Und: „Da kommt ja unser Gartenzwerg.“ Sie hat sich dumm gestellt, nichts gemacht. Aber das geht nicht, dass man sich nicht wehrt. Die sind dann immer dreister 1 geworden, ist ja klar. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 104 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=