Treffpunkt Deutsch 2, Sprachbuch

Und noch eine unheimliche Geschichte – Die Erzählperspektive wechseln Umgang mit Texten Schreiben André Maurois Das Haus 1  Normandie, Touraine, Poitou: Gegenden in Frankreich Als ich krank war vor zwei Jahren, erzählte sie, wurde mir bewusst, dass ich jede Nacht den gleichen Traum hatte. Ich ging übers Land; von weitem bemerkte ich ein weißes Haus, niedrig und lang gestreckt, umgeben von einem Lin- denwäldchen. Zur Linken des Hauses durch- brach eine von Pappeln begrenzte Wiese an­ genehm die Symmetrie des Bildes und ihre Wipfel, die man von weitem erblickte, wiegten sich über den Linden. Im Traum fühlte ich mich zu diesem Hause hingezogen und ich schritt darauf zu. Ein weiß gestrichenes Tor versperrte die Einfahrt. Der Weg war mit Bäumen eingefasst, unter denen ich Frühlingsblumen fand: Schlüsselblumen, Leberblümchen und Anemonen, die welkten, sobald ich sie pflückte. Hatte man die Allee durchschritten, war man nicht mehr weit vom Haus entfernt. Ein breiter Rasen lag davor, nach englischer Art geschoren und beinahe kahl. Einzig ein Beet violetter Blumen zog sich durch das Grün. Das Haus war aus weißen Steinen er- baut und trug ein Schieferdach. Zur Tür aus heller Eiche mit geschnitzter Füllung führte eine Freitreppe hinauf. Ich wollte das Haus be- sichtigen, doch niemand antwortete meinem Klopfen. Ich war tief enttäuscht, klingelte, rief und wachte endlich auf. Das war mein Traum – und er kehrte während vieler Monate immer wieder, er wiederholte sich mit einer Stetigkeit und Genauigkeit, dass ich schließlich dachte, ich hätte in meiner Kindheit dieses Schloss und den Park schon einmal gesehen. Dennoch konnte ich, wenn ich wach war, mich nicht da- ran erinnern und das Nachgrübeln wurde zu einer Art von Besessenheit, sodass ich eines Sommers, als ich gelernt hatte selbst einen klei- nen Wagen zu lenken, beschloss, während meiner Ferien ganz Frankreich auf der Suche nach dem Haus meines Traumes zu durch- fahren. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 Ich erzähle Ihnen nichts von meiner Reise. Ich durchstreifte die Normandie, die Touraine und das Poitou 1 ; nichts fand ich und war darü- ber nicht erstaunt. Im Oktober kehrte ich nach Paris zurück und fuhr fort, während des ganzen Winters von meinem weißen Haus zu träumen […]. Doch eines Tages, ich fuhr durch ein be- nachbartes Tal, überkam mich ein angenehmer Schreck, jene merkwürdige Erschütterung, die einen ergreift, wenn man nach langer Abwesen- heit Menschen oder Orten wieder begegnet, die man sehr geliebt hat. Obschon ich niemals in dieser Gegend gewesen war, erschien mir die Landschaft, die sich zu meiner Rechten dehnte, ganz vertraut. Pappelwipfel überragten eine Lindengruppe. 42 44 46 48 50 52 54 56 Durch das Laubwerk hindurch gewahrte man ein weißes Haus. Da wusste ich, dass ich das Schloss meiner Träume gefunden hatte. Ich wusste genau, dass hundert Meter weiter ein schmaler Weg die Straße kreuzen musste. Der Weg war da. Ich schlug ihn ein. Ich folgte ihm bis vor ein weißes Gartentor. 58 60 62 64 44 Nur zu Prüfzw cken – Eigentum des Verlags öbv

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