Treffpunkt Deutsch 2, Sprachbuch

Von Großem und Kleinem – Die Großschreibung wiederholen und anwenden Umgang mit Texten Nachdenken über Sprache Das Meislein Ihr glaubt gar nicht, was mir Unglaubliches passiert ist! Meine Geschichte hört sich so unwahrscheinlich an, aber ich schwöre, dass es sich um die Wahrheit handelt! 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 hielt, und steckte schließlich sein Köpfchen un- ter die Federn und schlief seelenruhig auf der Schulter der alten Frau ein! Einige Zeit beobachtete ich dies, dann aber wollte ich unbedingt die Geschichte dieses Vö- gelchens erfahren und so überwand ich mein Zögern und setzte mich zum Weiblein auf die Bank. Dieses aber war gar nicht überrascht über mein Erscheinen. Wie erstaunt hingegen war ich, als es sagte: „Meine liebe Dame, ich weiß wohl, warum Sie hier sind.“ Und mit diesen Worten begann sie, mir ihre Geschichte zu erzählen. „Als ich jung war“, erzählte das alte Weiblein, „hatte ich einmal in einer fremden Stadt bei ei- nem Kongress zu tun. Für den Abend plante ich den Besuch einer Theatervorstellung. In der Loge fand ich mich neben einem jungen Herrn wieder, der einen sehr netten Eindruck machte, und der sich mir als Herr S. vorstellte. Nach der Vorstellung traf ich ihn wieder und der junge Herr lud mich zu einem Restaurantbesuch ein. Ich sagte zu. Herr S. schien sympathisch zu sein und er zeigte sich zuvorkommend und an- ständig. Dennoch ging auch etwas Merkwürdi- ges und fast ein bisschen Unheimliches von ihm aus. Je länger der Abend im Restaurant dauerte, desto blasser wurde er, ja man hätte meinen können, er werde auch zunehmend dünner und sein ganzes Wesen bekam fast etwas Durch- scheinendes. Gegen Ende nahm er auch nicht mehr an der Unterhaltung teil. Schließlich be- gleitete er mich stumm und merkwürdig teil- nahmslos zu meiner Unterkunft, wo wir gegen 23 Uhr ankamen. Am nächsten Tag spürte ich gleich beim Ein- treten in das Kongresshotel, dass etwas Beson- deres passiert sein musste. Eine Kollegin be- richtete mir auf meine Nachfrage, dass ein Herr S. gestern unmittelbar nach der Theatervorstel- lung beim Überqueren der Straße von einer Straßenbahn erfasst und getötet worden sei. Niemand konnte sich erklären, warum ich nach dem Hören dieser Nachricht in Ohnmacht fiel. Als ich nach einigen Tagen wieder zuhause an- kam, saß ein kleines Meislein vor meinem Fens- terbrett. Das Zwitschern dieses Vögelchens war allerliebst, mir aber stellten sich bei seinem An- blick die Härchen auf meinen Armen auf.“ 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 Zu jener Zeit ging ich jeden jeden Tag saß dort ein altes Weiblein auf einer Bank, umgeben von Tauben, die sie fütterte. Das wäre ja noch kaum etwas Besonderes gewe- sen, aber unter all den gurrenden Tauben war immer auch ein kleines Meislein, und dieses Meislein flog irgendwann hoch, verließ die Menge der aufgeregt hin und her schwirrenden Vögel und flog dem alten Weiblein auf die Schulter! Dort blieb es dann sitzen, pickte noch ein bisschen an den Krümeln, die sie ihm hin- Tag im Park spazieren und 40 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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