Treffpunkt Deutsch 2, Sprachbuch

Durch Nacht und Nebel 31 liegt und daran denkt, dass er sich ja nach den Ferien einen neuen Hund anschaffen kann.“ Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Sie sind übrigens nicht der Einzige, der diesen Hund gesehen hat, Doktor. Ich habe dieselbe Geschichte schon ein paar Mal gehört. Leute, die hier vorbeifuhren, sahen den Hund, und wenn sie anhielten und sich um ihn kümmern wollten, war er plötzlich verschwunden. Seit ein paar Tagen allerdings-“ Der Tierarzt unterbrach ihn mit einem lau- ten Ausruf. „Sehen Sie doch, sehen Sie! Da vor- ne ist die Wegkreuzung, und da ist auch der Hund!“ Die beiden Männer starrten angestrengt durch die Windschutzscheibe. Wo das Schein- werferlicht einen Kegel aus der Finsternis schnitt, war ganz deutlich der Pfosten zu sehen, der einen langen schwarzen Schatten warf. Vor dem Pfosten lag hingestreckt der Hund. Es war zwei- fellos derselbe große braune Boxermischling, und doch sah er ganz anders aus. Sein Fell glänz- te, seine Augen waren blank und klar, und er war auch nicht mehr allein. Sein Kopf lag auf den Stiefeln eines jungen Mannes, eines Trampers, der den Pfosten als Rückenstütze bei einem Nickerchen benützte. Die Rechte des Trampers lag auf dem mächtigen Nacken des Hundes und kraulte im Halbschlaf sein Ohr. Der Junge sah blass und verwahrlost aus, wie er da neben sei- nem mächtig voll gepackten Rucksack döste. Man sah ihm an, dass er kein fröhlicher Ruck- sacktourist war, sondern ein obdachloser Land- streicher, der sich mühsam durchs Leben bettel- te. Aber für den Hund war er eindeutig ein Prinz, ein König, ein Engel. Das Tier sah so glücklich aus, wie nur ein Hund aussehen kann, der ein liebevolles Herrchen hat. „Aber“, rief der Tierarzt bei dem Anblick verwirrt, „wieso ist denn – ich dachte, Sie sag- ten, der Hund sei tot gewesen?“ „War er ja auch“, entgegnete der Gendarm leise. „Das war es, was ich Ihnen noch sagen wollte: Man sieht ihn jetzt nicht mehr so wie früher. Die beiden sind immer beisammen, und sehr glücklich miteinander, wie man sieht.“ Der Tierarzt blinzelte ratlos. „Wollen Sie sa- gen, der Junge da hat einen Gespensterhund als Begleiter?“ „Nein, ganz so ist es nicht“, erwiderte der Andere bedächtig. „Sehen Sie, der Tramper wurde vor einer Woche hier in der Nähe tot aufgefunden. Litt an irgendeiner Krankheit, sagte der Arzt, und dann die glühende Hitze und das schwere Gepäck … Kreislaufkollaps. War schon eine Weile tot, als ein Bauer die Lei- che entdeckte. Ich war selber dabei, wie sie ihn in den Transportsarg packten. Nun ja, und jetzt haben die beiden einander gefunden, für immer und ewig, wie’s aussieht. Schauen Sie sie nur an!“ Der Tierarzt hatte aber nicht lange Zeit, sie anzusehen, denn da verblasste das Bild im Scheinwerferlicht, und langsam verschwanden vor seinen Augen der tote Herr und der tote Hund, die jetzt beide nicht mehr verlassen waren. 134 136 138 140 142 144 146 148 150 152 154 156 158 160 162 164 166 168 170 172 174 176 178 180 182 184 186 188 190 192 194 196 198 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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