Treffpunkt Deutsch 2, Sprachbuch

29 Durch Nacht und Nebel Barbara Büchner Der Hund am Wegrand „Hier auf dieser Straße ist es passiert, dort vor- ne an der Kreuzung, wo der Wegweiser steht“, sagte der Tierarzt zu seinem Beifahrer, dem Re- vierleiter des Gendarmeriepostens von Kreut- zenwald. „Und ich weiß genau, dass ich mich nicht getäuscht habe. Es war eine klare, mond- helle Nacht, und außerdem hatte ich natürlich die Scheinwerfer an.“ Der Gendarm machte eine unbestimmte Geste. „Erzählen Sie mir die Geschichte doch von Anfang an, Doktor.“ Der Tierarzt nickte. „In Ordnung.“ Er schal- tete zurück und fuhr langsamer, obwohl die Landstraße um diese Nachtzeit nur selten be- fahren wurde. Der Fernverkehr lief über die Autobahn ein paar Kilometer weiter westlich, und die Bauern mit ihren landwirtschaftlichen Fahrzeugen waren nur untertags unterwegs. Es war eine schmale Straße, links und rechts von Lärchenwald gesäumt. Sie war gebaut worden, um die Lastwagen zu den Kiesgruben zu brin- gen, die inmitten des Waldes lagen. Jetzt, wo die Kiesgruben aufgelassen waren, brauchte man die Straße nicht mehr. Es konnte manchmal Tage dauern, bis hier jemand vorbeikam. „Ich war“, erzählte der Tierarzt, „in Kreut- zenwald gewesen, um ein paar Kontrolluntersu- chungen vorzunehmen, und Sie wissen ja, wie das ist bei den Bauern – da muss der Tierarzt erst noch zum Essen bleiben und stundenlang den neuesten Klatsch und Tratsch anhören, ehe er sich verabschieden darf. Es war Mitte Juli und eine wunderschöne Nacht. Ich fuhr langsa- mer als gewöhnlich, weil ich merkte, dass ich ziemlich müde war, und obwohl hier so wenig Verkehr ist, wollte ich auf Nummer sicher ge- hen, dass nichts passierte. Ich fuhr also gemüt- lich dahin bis zu der Kreuzung, wo der Güter- weg nach Dörfl führt – die Kreuzung mit dem Wegweiser, die kennen Sie ja.“ „Klar kenne ich die“, antwortete der Gen- darm, der jeden Stein und jeden Baum im Um- kreis kannte. „Ich fuhr langsam vorbei, und ich schwöre Ihnen, ich habe mich nicht getäuscht: Da lag ein Hund. Ein ziemlich großer, dunkelbrauner Kerl mit einer faltigen Schlabberschnauze – muss ein Boxermischling oder etwas Ähnliches gewe- sen sein. Und erzählen Sie mir jetzt nicht, ich hätte einen Baumstrunk oder den Schatten ei- nes Busches für einen Hund gehalten! Ich fuhr keine sechzig Stundenkilometer, und ich hatte ihn voll im Scheinwerferlicht. Er lag flach auf dem Boden, die Schnauze auf den Vorder- pfoten, und sah schrecklich erschöpft und de- primiert aus. Sie wissen ja, wie Hunde aussehen, wenn sie alle Hoffnung aufgegeben haben.“ „Ja, sieht jämmerlich aus“, bestätigte der Gendarm. „Er sprang auf, als er mich sah, und begann vor Freude wie wild zu kläffen. Ich hielt an, und da machte er einen Satz auf mich zu, quiet- schend und japsend vor Freude – augenschein- lich hoffte er, sein Herrchen sei wieder gekom- men. Er wäre mir in die Arme gesprungen, aber er hing an dem Wegweiser fest. Ich sah sein Halsband und das Stück Reepschnur, das daran festgeknotet war. Das andere Ende war um den Pfosten geschlungen und zwei, drei Mal daran gebunden, als hätte der Scheißkerl, der das ge- macht hatte, ganz sicher gehen wollen, dass das arme Vieh sich nicht befreien konnte. Zweifel- los war es einer von diesen Typen gewesen, de- nen ihr Hund lästig wird, wenn sie in den Ur- laub fahren, und die ihn dann irgendwo anbinden und seinem Schicksal überlassen. Es musste schon zwei oder drei Tage her sein, dass der Hund da ohne Wasser und Futter lag, tags- über in der glühenden Julisonne, denn er sah jämmerlich aus – struppig und verzweifelt und halb verdurstet. Er konnte kaum noch bellen, so heiser war er.“ „Armes Vieh“, stimmte der Gendarm ein. „Und was war dann?“ „Natürlich sprang ich sofort aus demWagen, rief ihm ein paar beruhigende Worte zu und lief dann zum Kofferraum, um meine Tasche her- auszuholen. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Ver ags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=