Treffpunkt Deutsch 2, Sprachbuch

Wenn Geister zur Ordnung rufen – Das Erzählen planen Schreiben Umgang mit Texten In Grönland lebte einmal ein mutiger Jäger na- mens Kujavarsuk. Jedes Mal, wenn er mit sei- nem Kajak aufs Meer fuhr, erlegte er zehn Rob- ben. Deshalb konnte er auch in schweren Zeiten seine Familie und alle Verwandten, die bei ihm wohnten, mit Fleisch versorgen. Das erregte den Neid der anderen, besonders seines Onkels, der heimlich ein Zauberer war. Der Erfolg des Jägers fraß an seinem Herzen. Als eines Tages der Onkel mit einem einzigen Seehund nach Hause kam, während Kujavarsuk zehn erlegt hatte, setzte ihm die junge Frau des Jägers nur ein Rückenstück zum Essen vor. Der Onkel fühlte sich erniedrigt und geriet in Zorn. Er be- schloss, sich zu rächen, setzte sich hin und bastelte einen künstlichen bösen Geist, einen Rachegeist, der Kujavarsuk verderben sollte. Er band Speck und Bärenfleisch zusammen, Kno- chen von allen möglichen Tieren, Krallen, Federn, Holz und Sehnen. Dann sang er eine Beschwörung und machte den Rachegeist le- bendig. Aus dem Hass und dem Neid seines eigenen Herzens verlieh er ihm Leben, und zwar so, dass der Geist die Gestalt verschiede- ner Tiere annehmen konnte. „Verfolge den Jäger Kujavarsuk!“, befahl er dem Geist und setzte ihn aus. Der Rachegeist verwandelte sich in einen schnellen Seehund und suchte Kujavarsuk auf seinem Fangplatz auf. Er schwamm unter den Kajak und warf ihn um. Doch der Jäger be- herrschte durch langjährige Übung die Ka- jakrolle, er richtete sich geschickt wieder auf und paddelte so hurtig, dass der böse Geist ihm nichts antun konnte. So ging es auch am nächsten und am dritten Tag. Da beschloss der Rachegeist, den Jäger in seinem eigenen Haus aufzusuchen und ihn zu Tode zu erschrecken. Er kroch in den niedrigen Hausgang, der ins Innere des Iglus führte, und begann zu winseln, zu brummen und zu schrei- en. […] Der Jäger Kujavarsuk trat dem bösen Geist tapfer entgegen, aber mit abgewandtem Ge- sicht, weil er wusste, dass man einen Geist nicht ansehen darf. Er schlug ihn mit einem Stock, und der Geist biss ihn in den Finger. Der Geist konnte aber den Jäger nicht dazu bringen, ihn anzuschauen, und so konnte er ihm auch nicht schaden. Darauf versuchte der Geist unter der Erde ins Haus zu schlüpfen. Das glückte ihm auch nicht, weil Kujavarsuk mit einer Harpune nach ihm stach. Der Rachegeist wimmerte und flog aufs Dach. Dort aber hatte Kujavarsuk zum Schutz gegen Böses eine Eulenklaue angebracht, die hackte dem Rachegeist ins Gesicht. Da bäumte sich der Geist auf und schrie ver- zweifelt: „Der elende Zauberer, warum hat er mich bloß gemacht!“ Und er richtete seinen ganzen schrecklichen Zorn auf seinen Urheber. Wie ein Vogel flog er pfeilschnell durch die Luft an den Fischplatz des Zauberers. Er ließ sich als Seehund ins Wasser plumpsen, brachte den Ka- jak zum Kentern und verschlang seinen Herrn und Meister. Dann verließ er die Gebiete der Menschen und floh hinaus aufs wilde Meer. Kujavarsuk aber erreichte in Frieden ein hohes Alter. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 18 Lene Mayer-Skumanz Der Rachegeist Lies diese Geschicht. Bewerte mit Punkten von 1 – 10, ob die Geschichte für dich interessant ist und ob sie spannend erzählt wird. Tauscht eure Bewertungen im Klassengespräch aus. Kennzeichne durch Unterstreichung den Höhe- punkt der Geschichte. 1  C 2  3  Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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